Eine evolutionäre Perspektive auf Gegenseitigkeit, „Gedankenlesen“ und Freundschaft bei Kindern
Bei Jägern und Sammlern sind Freundschaft und die Gegenseitigkeit, die eine Freundschaft auszeichnet, entscheidend fürs Überleben. Erfolgreiche Jäger teilen ihre Beute. Sie betreuen abwechselnd die Kinder. Um ihre Freundschaften und Allianzen zu festigen, verschenken sie gerne wertvolle Schätze. Und ihre Kinder? Jäger und Sammler animieren ihre Kinder von klein auf zum gegenseitigem Helfen.
Viele Anthropolog/innen vermuten heutzutage, dass das Bedürfnis, Freunde und Gleichgesinnte zu finden, eine wesentliche Rolle in der menschlichen Evolution spielte. Unsere Vorfahren haben sich im Widerstand gegen Krankheiten, Hungersnöte und Raubtiere zusammengeschlossen. Dabei hat die natürliche Auslese Menschen begünstigt, die gut darin waren, „Gedanken zu lesen“ und Beziehungen aufzubauen.
Kinder, die besser mit ihren Mitmenschen umgingen, bekamen mehr Unterstützung – mehr Aufmerksamkeit, mehr Nahrungsmittel, mehr Personen, die bereit waren, mit ihnen zu teilen. Wer keine Freunde finden konnte, war sozial abgeschottet und geriet in große Schwierigkeiten. Die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy argumentiert, dass Babys mit einem sozial orientierten Gehirn ausgerüstet sind, da unsere Vorfahren Freunde und Verbündete brauchten, um zu überleben.
Freundschaft war also schon immer wichtig. Aber was – neben dem Teilen – gehört zu einer erfolgreichen Freundschaft dazu?
Was macht Freundschaft aus?
Studien über westliche Bevölkerungsgruppen lassen einige Schlüsse auf die Freundschaft von Kindern zu.
- Genau wie Erwachsene lehnen Kinder Personen ab, die sie als aggressiv, unangenehm, gereizt, herrisch, hinterhältig oder egoistisch empfinden.
- Kinder, die bereit sind, anderen zu helfen, pflegen eher hochwertige Freundschaften.
- Die Beliebtheit im Kindergarten hängt mit sprachlichen Fähigkeiten, Freundlichkeit und wenig Aggression zusammen.
- Der „Umgang“ mit sozialen Altersgenossen – Kindern, die kooperativ und freundlich sind – kann Vorschulkindern helfen, wichtige emotionale Fähigkeiten zu entwickeln. Eine Studie ergab, dass 4-jährige Kinder, die mehr Zeit mit freundlichen Gleichaltrigen verbrachten, später emotional gesünder und weniger ablehnend ihren Mitschülern gegenüber waren – selbst wenn man die anfänglichen Unterschiede in der Persönlichkeit und die “ Atmosphäre“ der Klasse berücksichtigte.
- Direkte Eingriffe können Kinder freundlicher und beliebter machen. Als Forscher/innen einige Schüler/innen nach dem Zufallsprinzip aufforderten, jede Woche drei gute Taten zu vollbringen, wurden diese Kinder verglichen mit den Kindern einer Kontrollgruppe beliebter.
- Einfühlsamkeit ist wichtig! Verstehen kleine Kinder die Denkweisen und die Gefühlswelt anderer Menschen, akzeptieren sie Gleichaltrige eher und schließen häufiger Freundschaften mit ihnen. Und je älter Kinder werden, desto deutlicher werden die Zusammenhänge zwischen Beliebtheit und sozialen Kompetenzen wie Einfühlungsvermögen, Moralverständnis und Perspektivenübernahme.
- Es ist wahrscheinlicher, dass Kinder sich anfreunden, wenn sie miteinander Spaß haben, ein Gefühl des Vertrauens verspüren und sich gegenseitig unterstützen.
- Freundschaften entstehen häufiger zwischen Kindern, die sich ähneln. Wenn Kinder sich ähneln, ist es wahrscheinlicher, dass sie die gleichen Interessen haben. Und es ist unwahrscheinlich, dass eine Beziehung ausbeuterisch wird ( d. h. dass ein Freund mehr profitiert als der andere), wenn beide Seiten einander gleichwertige Dienste erweisen, wie z. B. intellektuelle Anregung oder sozialen Status.
Wie können Eltern die Freundschaften ihrer Kinder beeinflussen?
In Anbetracht dieser Aspekte scheint es wahrscheinlich, dass Eltern ihren Kindern helfen können, Freunde zu finden und zu behalten, indem sie Folgendes fördern
- Einfühlungsvermögen, Perspektivenübernahme und Mitgefühl
- Fähigkeiten zur Gesprächsführung
- Emotionale Selbstbeherrschung
- Bereitschaft, Kompromisse einzugehen und Hilfe anzubieten
- Bereitschaft zu teilen, sich abzuwechseln und Regeln zu befolgen
Wie geht das? Der wichtigste Einfluss beginnt vermutlich zu Hause – mit den Beziehungen, die Kinder zu ihren Eltern und Geschwistern haben.
Wie die Familie Freundschaften von Kindern prägt
Verschiedene Studien legen nahe, dass Kinder, die eine feste Bindungsbeziehung zu ihren Eltern haben, auch bessere Freundschaften schließen. Zum Beispiel:
- Untersuchungen, die Kinder von klein auf beobachteten, ergaben, dass Kinder, die als Baby eine gute Bindungsbeziehung hatten, im Alter von 10 Jahren mit höherer Wahrscheinlichkeit enge Freundschaften hatten.
- Eine weitere Studie ergab, dass Freundschaften zwischen Kindern im Vorschulalter, die eine sichere Bindungsbeziehung hatten, harmonischer, weniger kontrollierend, aufgeschlossener und glücklicher waren als Freundschaften mit Kindern, die eine unsichere Bindungsbeziehung hatten.
- Eine Studie mit älteren Kindern (im Alter von 9 bis 12 Jahren) ergab, dass Kinder, die das Gefühl hatten, sich auf die Hilfe ihrer Eltern verlassen zu können, auch über bessere Freundschaften mit Gleichaltrigen verfügten.
- Eine Studie der University of Minnesota verfolgte 78 Personen von der Kindheit bis zur Mitte ihrer 20er. Die Forscher/innen fanden heraus, dass Personen, die im Alter von 12 Monaten sichere Bindungsbeziehungen hatten, von ihren Grundschullehrer/innen als sozial kompetenter eingeschätzt wurden. Diese sozial kompetenteren Kinder hatten auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, mit 16 Jahren gute Freundschaften zu haben.
Das sind natürlich nur Zusammenhänge. Eventuell ist der Zusammenhang zwischen der Erziehung und den Beziehungen zu Gleichaltrigen auf eine dritte Variable zurückzuführen, z. B. die Genetik. In einer Studie, die Probleme mit Altersgenossen bei Dreijährigen untersuchte, führten Verhaltensgenetiker 44 % der Abweichungen zwischen Kindern auf die Vererbbarkeit zurück.
Es gibt jedoch berechtigte theoretische Anhaltspunkte dafür, dass sichere Bindungsbeziehungen Kindern helfen, Freundschaften zu schließen. Ein Kind mit sicherer Bindungsbeziehung hat gelernt, dass soziale Beziehungen sich lohnen. Es hat gelernt, zu vertrauen. Und es hat viel darüber hinaus gelernt, wie man mit anderen Menschen zurechtkommt.
Bedenke auch die Auswirkungen von Gesprächen innerhalb der Familie.
Studien zeigen, dass Kinder, die an Familiengesprächen über Gefühle und Befindlichkeiten teilnehmen, sozial kompetenter sind.
Kinder, die dazu ermutigt werden, über ihre Motive, Überzeugungen und Gefühle zu sprechen, entwickeln bessere Fähigkeiten zum „Gedankenlesen“.
Und Kinder, die Geschwister haben, schneiden bei bestimmten Theory-of-Mind-Aufgaben besser ab – bei denen es darum geht, die Emotionen anderer zu deuten und zu erkennen, ob die Überzeugungen anderer von unseren eigenen abweichen.
Doch all das geschieht nicht automatisch. Es scheint, dass Kinder bessere soziale Kompetenzen entwickeln, wenn Erwachsene und ältere Geschwister sich bemühen, ihnen diese beizubringen.
Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/menschen-party-glucklich-kindheit-7600186/