Belastende Kindheitserfahren und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit

Belastende Kindheitserfahrungen, auch bekannt als ACEs (engl.: Adverse Childhood Experiences), sind frühe Lebenserfahrungen, die schädlichen Stress oder ein Trauma auslösen können. Sie sind weit verbreitet und erhöhen bei Kindern das Risiko für eine Reihe von Gesundheitsschäden. Doch nicht alle ACEs sind gleichermaßen schädlich. Wenn man ihnen ausgesetzt war, bedeutet das nicht zwingen, dass diese Gesundheitsschäden auch eintreten.

Sozialwissenschaftler:innen nennen sie „belastende Kindheitserfahrungen“ (oder „ACEs“), und sie umfassen einige der schlimmsten Stressfaktoren in der frühen Kindheit: Emotionale, körperliche oder sexuelle Misshandlung, Vernachlässigung, häusliche Gewalt, Verlust (Tod) eines Elternteils, Scheidung oder Trennung der Eltern, ein inhaftierter Elternteil, ein Zuhause mit einer drogenabhängigen, depressiven, suizidalen oder psychisch kranken Person.

Ist diese Liste vollständig? Nein. Es geht bei der Einstufung als ACE darum, eine Situation zu identifizieren, die schädlichen Stress oder ein Trauma auslöst. Leider gibt es vieles, das ein Kind belastet oder traumatisiert. Daher haben Forschende weitere Ursachen für frühkindliche Belastungen vorgeschlagen. Darunter finanzielle Sorgen der Familie, unsichere Wohnverhältnisse und das Zusammenleben mit einem schwerkranken oder behinderten Haushaltsmitglied. Andere ACEs sind Mobbing, Diskriminierung aufgrund der Herkunft und Gewalt in der Wohngegend oder im schlimmsten Fall Krieg.

Belastende Erfahrungen und ihre Folgen

Sagen negative Erfahrungen während der Kindheit schlechte Gesundheitsfolgen voraus?

Ja. Seit Vincent Felitti und seine Kolleg:innen das ACE-Konzept zum ersten Mal vorstellten, dokumentieren Forschende Zusammenhänge zwischen ungünstigen Lebensumständen in der frühen Kindheit und einer schlechteren Gesundheit. Zunächst beschränkte sich Felittis Team auf eine Liste von sieben schwerwiegenden ACEs:

  • psychischer Missbrauch
  • körperliche Misshandlung
  • sexueller Missbrauch
  • Leben mit häuslicher Gewalt
  • Zusammenleben mit drogenabhängigen Haushaltsmitgliedern
  • Zusammenleben mit psychisch kranken oder suizidalen Haushaltsmitgliedern
  • Zusammenleben mit Haushaltsmitgliedern, die (im Laufe ihres Lebens) inhaftiert waren

In nachfolgenden Studien wurde diese Liste der ACEs jedoch erweitert, sodass nun auch Situationen wie Vernachlässigung von Kindern, gravierende finanzielle Probleme der Familie und Scheidung oder Trennung der Eltern dazu gehören. Der allgemeine Ansatz ist dabei ziemlich einheitlich. Man sucht eine Gruppe von Menschen, und untersucht ihre frühen Lebenserfahrungen und ihre spätere Gesundheit. Anschließend werden statistische Analysen durchgeführt. Damit man feststellen kann, ob Menschen mit ACEs im Laufe der Zeit mit höherer Wahrscheinlichkeit eine schlechtere Gesundheit haben.

Und was kommt dabei heraus? Die Forschende stellen immer wieder die gleichen Zusammenhänge fest. Kinder mit ACEs haben ein höheres Risiko, psychische Probleme, Drogenmissbrauch und körperliche Erkrankungen zu entwickeln.

In einer Auswertung von 23 Studien aus Nordamerika und Europa fanden Forschende heraus, dass Menschen, die mit nur einem ACE aufgewachsen sind, ein 30-50% höheres Risiko haben, an Depressionen zu erkranken. Zudem rauchen sie 23-29% häufiger und neigen um 50% häufiger zu Alkohol- oder Drogenmissbrauch. Und Menschen mit zwei oder mehr ACEs? Im Vergleich zu Personen ohne ACEs hatten sie ein mindestens doppelt so hohes Risiko für

  • Depression,
  • Angstzustände,
  • schädlichen Alkoholkonsum,
  • illegalen Drogenkonsum und
  • Atemwegserkrankungen.

In einer anderen Analyse von europäischen Studien fanden Forschende heraus, dass Menschen mit zwei oder mehr ACEs ein um 75 % höheres Risiko haben, einen Schlaganfall zu erleiden, und ein etwa 50 % höheres Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs zu erkranken. Bei Menschen mit zwei oder mehr ACEs war die Wahrscheinlichkeit, in zwischenmenschliche Gewalt verwickelt zu werden, fast viermal so hoch.

ACEs werden also mit einer wesentlich größeren Anzahl von körperlichen und psychischen Gesundheitsproblemen in Verbindung gebracht. Es gibt auch Hinweise darauf, dass ACEs mit bestimmten körperlichen Veränderungen in Verbindung stehen, darunter

  • veränderte DNA-Methylierung, durch die wichtige Gene an- oder abgeschaltet werden können;
  • kürzere Telomere (ein Zustand, der das Risiko von DNA-Schäden und vorzeitiger Alterung erhöht); und
  • eine veränderte Entwicklung des Gehirns (die mit kognitiven und Verhaltensproblemen verbunden ist).

Welche ACEs sind die Schädlichsten?

Wie Kinder auf ACEs reagieren, hängt von vielen Umständen ab, darunter ihre eigene Vorgeschichte, genetische Risikofaktoren und die Art der sozialen Unterstützung, die sie erhalten. Außerdem sind die ACE-Kategorien selbst etwas verschwommen. So kann es sein, dass zwei Menschen, deren Eltern sich scheiden ließen, dadurch sehr unterschiedliche Belastung erfuhren. Es kommt auf die Details an.

Doch im Allgemeinen ist die Scheidung der Eltern nicht so schädlich wie Missbrauch oder Vernachlässigung. Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass eine bestimmte Form des Missbrauchs – der sexuelle Missbrauch – besonders schädlich ist, vor allem wenn er gemeinsam mit einer anderen ACE auftritt.

Auswirkungen auf das Lebensalter

Verkürzen ACEs die Lebensspanne eines Menschen?

Anscheinend schon. Vergleichen Forschende die langfristigen Auswirkungen von ACEs auf Menschen, die unterschiedlich stark belastet wurden, stellen sie häufig fest, dass ACEs eine kürzere Lebenserwartung voraussetzen.

In einer britischen Studie mit mehr als 7000 Teilnehmern, die im Jahr 1958 auf die Welt kamen, hatten Männer ein 57% höheres Risiko, im Alter von 50 Jahren zu sterben, wenn sie mit 2 oder mehr ACEs aufwuchsen. Bei den Frauen hatten Personen mit einem einzigen ACE ein erhöhtes Risiko von 66%. Bei Frauen mit zwei oder mehr ACEs war das Risiko sogar um 80% erhöht.

Der Einfluss anderer Risikofaktoren auf Gesundheitsprobleme

Wie können wir sicherstellen, dass es die Belastungen in der Kindheit waren, die für die höheren Sterberaten verantwortlich waren, und nicht die Belastungen in einem anderen Lebensabschnitt?

Das ist knifflig, denn einige Menschen sind schon vor ihrer Geburt benachteiligt. Und es ist natürlich nicht ungewöhnlich, dass Menschen im Erwachsenenalter Schicksalsschläge erleben oder Verhaltensweisen an den Tag legen, die ihr Krankheitsrisiko erhöhen. Wenn also ein Erwachsener in relativ jungem Alter stirbt, wie lassen sich dann die Ursachen herausfinden? Wie viel der Lebensdauer wurde durch Belastungen in der Kindheit verkürzt, und wie viel durch vorgeburtliche oder erwachsene Widrigkeiten?

Um dieser Frage nachzugehen, haben die Forschenden in der britischen Studie statistische Methoden angewandt, um eine Reihe von Störfaktoren zu kontrollieren – darunter die Belastung durch Rauchen während der Schwangerschaft, den sozioökonomischen Status im Erwachsenenalter und verschiedene gesundheitlich relevante Merkmale, die im Alter von 23 Jahren gemessen wurden (BMI, Tabakkonsum, Alkoholkonsum und Symptome von Depressionen oder Angstzuständen). Die erhöhten Sterblichkeitsraten, die sie ermittelten (57 % für Männer und 80 % für Frauen), spiegeln die Auswirkungen der ungünstigen Erfahrungen in der Kindheit wider, nachdem diese Faktoren berücksichtigt wurden.

Das ist interessant, vor allem wenn man bedenkt, dass viele dieser relevanten Gesundheitsmerkmale im Alter von 23 Jahren selbst durch ACEs verursacht wurden. Ungünstige Lebenserfahrungen in der Kindheit wirkten sich stark auf die Mortalität im Erwachsenenalter aus, selbst wenn die Forschenden die Verhaltensprobleme im Erwachsenenalter berücksichtigten, die mit dem Stress in der Kindheit zusammenhängen.

Der psychologische Zusammenhand zwischen Stress und Gesundheit

Aber wie führt Widrigkeit zu schlechter Gesundheit? Was ist der physiologische Zusammenhang zwischen frühkindlichem Stress und der Entwicklung von Krankheiten oder Störungen?

Es gibt eine Reihe von Mechanismen. Wenn Widrigkeiten das Stressreaktionssystem eines Kindes immer wieder auslösen, ist der Körper dauerhaft hohen Konzentrationen von Stresshormonen ausgesetzt. Dies kann zu erhöhtem Blutdruck, hohem Blutzucker und Entzündungen führen – und somit zu zahlreichen Krankheiten.

Zudem kann Stress Gene ein- und ausschalten, wodurch sich der Spiegel verschiedener Proteine, Hormone und Neurotransmitter in unserem Gehirn verändert. Diese Veränderungen in der Neurochemie können zu abnormalen Mustern in der Gehirnentwicklung führen – mit negativen Folgen für die psychische Gesundheit, die soziale Anpassung und die kognitiven Fähigkeiten.

Es ist also logisch, dass ACEs mit schlechten Gesundheitsfolgen zusammenhängen, doch wir müssen uns über die Grenzen von Korrelationsstudien im Klaren sein. ACEs könnten eine kurze Lebensdauer verursachen, weil sie das Stressreaktionssystem einer Person überreizen. Es ist aber auch möglich, dass etwas anderes – etwas, das die Forschenden nicht analysieren – eine Rolle spielt.

Wenn Forschende zum Beispiel die ACEs einer Person auswerten, untersuchen sie normalerweise nicht, ob sie Umweltverschmutzungen oder Schadstoffen ausgesetzt war. Sie finden auch nicht heraus, ob man als Kind unter einem Nährstoffmangel litt oder ob man eine ausreichende zahnärztliche und medizinische Vorsorge genoss. Was ist, wenn Kinder mit ACEs häufiger diesen zusätzlichen Risikofaktoren ausgesetzt sind?

Wenn wir einen eindeutigen Beweis dafür haben wollen, dass schädlicher Stress für die Mortalität und schlechte Gesundheitsergebnisse verantwortlich ist, brauchen wir experimentelle Beweise. Und die haben wir – nämlich aus dem Tierreich.

Experimentelle Beweise für den negativen Einfluss sozialen Stresses

In einem sorgfältig kontrollierten Experiment mit erwachsenen männlichen Mäusen wählten die Forschenden nach dem Zufallsprinzip einige Tiere aus, die täglich mit aggressiven, tyrannischen Mäusen zusammentrafen. Andere Mäuse wiederum sollten mit ruhigeren Artgenossen zusammen sein.

Die beiden Gruppen wurden in jeder weiteren Hinsicht gleich behandelt. Dieselbe Art von Umgebung. Dasselbe Futter, dieselben Lebensbedingungen. Aber die Mäuse in der “ tyrannisierten“ Gruppe hatten eine kürzere Lebenserwartung – im Durchschnitt etwa 12% geringer. Sie zeigten auch frühzeitig Anzeichen von Arteriosklerose, einer Verengung der Arterien, die durch die Ansammlung von Fetten und Cholesterin verursacht wird.

Ähnliche Muster wurden auch bei Primaten festgestellt. Affen sind zum Beispiel in Gefangenschaft aufgewachsen und wurden in kleinen sozialen Gruppen untergebracht. Die Gruppenmitglieder erleben die gleichen Rahmenbedingungen und erhalten die gleiche Ernährung und medizinische Versorgung. Doch manche Individuen – diejenigen, die in der Hierarchie untergeordnet sind und mehr sozialem Stress ausgesetzt sind – entwickeln mit größerer Wahrscheinlichkeit viszerale Adipositas und Arteriosklerose der Herzkranzgefäße.

Zudem haben die Forschenden in einem Experiment die Hierarchien manipuliert und kontrolliert, wer dominant und wer untergeordnet war. Bei den Affen, die sich unterordnen mussten, kam es zu stressbedingten Veränderungen des Immunsystems, die ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Infektionskrankheiten mit sich brachten.

Was sagen solche Experimente über die Folgen von Widrigkeiten in jungen Jahren auf die Gesundheit aus? Die Studien richteten sich an erwachsene Tiere, nicht an Jungtiere, so dass wir uns nicht sicher sein können. Doch sie haben nachgewiesen, dass soziale Stresssituationen allein ausreichen, um ernsthafte Gesundheitsprobleme zu verursachen.

Andere Experimente deuten darauf hin, dass Nager-Jungtiere zumindest auf eine bestimmte Art von Stress in der frühen Lebensphase empfindlich reagieren: Wenn sie von einer Bezugsperson mehrere Stunden am Stück allein gelassen werden. Wenn die Jungtiere täglich 3 bis 4 Stunden von ihren Müttern getrennt sind, verändern sich Funktion und Struktur des Gehirns – Veränderungen, die das Risiko für die Entwicklung krankhafter Verhaltensmuster steigern.

Was können wir tun?

Ungünstige Kindheitserfahrungen sind weltweit sehr verbreitet. In einer kürzlich durchgeführten Studie mit mehr als 200.000 Erwachsenen in den Vereinigten Staaten hatten 57% mindestens ein ACE, und fast 22% hatten drei oder mehr ACEs. Zweifellos verursachen ungünstige Kindheitserfahrungen der betroffenen Person – und der Gesellschaft – erhebliche Kosten.

Doch wir sind noch lange nicht dem Untergang geweiht. Wir haben es in der Hand, viele ACEs zu verhindern, und wir sind in der Lage, Kindern beim Umgang mit den Folgen schädlichen Stresses zu helfen – und diese zu überwinden.

Auf gesellschaftlicher Ebene können wir dazu beitragen, ACEs mit politischen Maßnahmen und Programmen zu verhindern, die folgende Ziele verfolgen:

  • Familien die Hilfe geben, die sie brauchen, um eine sichere, stabile Bleibe zu haben und ihre Grundbedürfnisse zu decken.
  • Eltern bezahlbare, verlässliche und qualitativ hochwertige Betreuungsangebote für ihre Kinder sowie flexible und beständige Arbeitszeiten anbieten.
  • Von körperlichen Strafen abraten und Ansichten hinterfragen, die zu häuslicher Gewalt beitragen.
  • Kindern, die ein Trauma oder schädlichen Stress erlebten, bewährte Therapien wie die kognitive Verhaltenstherapie anbieten.

Wir können Kindern zu Hause, in der Schule und in der Wohngegend auch helfen, indem wir warmherzig und wohlwollend auf ihre Bedürfnisse eingehen. Mit positiven Erziehungsstrategien und Emotions-Coaching können Kinder lernen, mit Konflikten und Stress umzugehen. Sichere Bindungsbeziehungen – und eine einfühlsame, aufmerksame Erziehung – können einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, Kinder vor den Auswirkungen von schädlichem Stress zu bewahren. Auch warmherzige, gute Beziehungen zwischen Schüler:innen und Lehrkräften haben einen großen Einfluss.

Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/zuhause-ungesund-kind-traurig-6603351/


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