Wie Empathielücken unsere Wahrnehmung und Entscheidungen beeinflussen

Ob man es „Empathielücke“ nennt oder ein Versagen des Vorstellungsvermögens: Menschen haben Schwierigkeiten, sich in Gefühle hineinzuversetzen, die sie selbst nicht erleben.

Fühlst du dich zum Beispiel gerade ruhig und gefasst, sind deine mentalen Prozesse womöglich zu „kalt“, als dass du dich an die gesamte Wucht intensiver Gefühle, Leidenschaften oder Schmerzen erinnern könntest. Wenn du dagegen gerade von einem starken Gefühl beherrscht wirst, ist dir wahrscheinlich nicht bewusst, wie sehr dieser „heiße“ Zustand deine Wahrnehmung und deine Entscheidungen beeinflusst.

Dieses Problem betrifft alle Arten von Gefühlen, auch solche wie Hunger und Durst und es kann zu klassischen Irrtümern führen, zum Beispiel dazu, dass man nicht erkennt, wie sehr eine andere Person leidet.

Doch um die Tragweite der Empathielücke wirklich zu begreifen, musst du dir erst einmal vor Augen führen, wie sie die Entscheidungen beeinflusst, die wir über unser eigenes, zukünftiges Selbst treffen.

Stell dir zum Beispiel vor, jemand bietet dir Geld an, damit du nächste Woche in ein Labor gehst und eine schmerzhafte Erfahrung machst – zum Beispiel deine Hand in eiskaltes Wasser zu tauchen. Wie viel würdest du für dieses kleine Opfer verlangen?

Das ist die Frage, die die Psychologen David Read und George Loewenstein einigen Studierenden gestellt haben.

Man sollte meinen, dass die Studierenden ihre eigenen Schmerzen recht gut einschätzen können. Doch ihre Antworten hingen entscheidend von früheren Erlebnissen ab.

  • Personen, die gerade die Auswirkungen des Eintauchens in ein Eiswasserbad erlebt hatten, verlangten das meiste Geld dafür, es erneut zu tun.
  • Personen, die den Schmerz schon einmal erlebt hatten, aber nicht in letzter Zeit, verlangten eine geringere Summe.
  • Menschen, die den Schmerz noch nie erlebt hatten, verlangten am wenigsten.

Forscherinnen und Forscher haben ähnliche Effekte auch für die Bereiche Sucht und soziale Ängste dokumentiert.

In einer Studie wurden Heroinabhängige gebeten, den Preis für Buprenorphin (BUP), ein methadonähnliches Medikament, zu nennen. Die Forscher/innen sagten den Süchtigen, dass sie in fünf Tagen zwischen einem Geldgeschenk und einer zusätzlichen Dosis BUP wählen könnten.

Wie viel Geld würden sie benötigen, um die zusätzliche Dosis abzulehnen? Die Patienten verlangten mehr Geld, wenn sie gegenwärtig ein starkes Verlangen danach verspürten.

Eine andere Studie befasste sich mit den Auswirkungen der Empathielücke auf soziale Ängste. Schüler/innen wurde ein zukünftiger Auftritt angeboten – für 2 Dollar konnten sie eine Woche später vor ihren Mitschülern auftreten. Von den Schüler/innen, die ihre Bereitschaft zur Schauspielerei vorhersagten, änderten viele ihre Meinung, als das Datum des geplanten Auftritts bevorstand.

Interessanterweise überschätzten die Schüler/innen auch die Bereitschaft ihrer Mitschüler/innen, als Schauspieler/innen aufzutreten.

Gehirnscans deuten darauf hin, dass unser Gehirn nicht auf die gleiche Weise funktioniert, wenn wir Entscheidungen treffen, die theoretisch oder weit entfernt sind. Wenn wir vor einer „heißen“ Entscheidung stehen, werden die Belohnungszentren des Gehirns – und die Amygala – aktiver.

Empathielücke und Perspektivübernahme

Wenn Menschen Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Wünsche und Handlungen vorherzusagen, wie gehen sie dann mit den Gefühlen anderer um?

Wie die Schauspiel-Studie nahelegt, hängt die heiß-kalt-Empathielücke mit der Perspektivenübernahme zusammen: Wir scheinen das, was wir fühlen, auf andere Menschen zu projizieren.

Leaf Van Boven und George Loewenstein testeten diese Idee in einer Universitätssporthalle.

An der Studie nahmen zwei Gruppen teil: diejenigen, die noch nicht trainiert hatten, und diejenigen, die gerade ein anstrengendes, 20-minütiges Herz-Kreislauf-Training absolviert hatten.

Die Teilnehmer/innen beider Gruppen wurden gebeten, eine Geschichte über Wanderer zu lesen, die sich im Wald ohne Essen und Trinken verirrt hatten.

Dann sollten sie sich vorstellen, wie sich die Wanderer fühlten. „Was wäre unangenehmer, Hunger oder Durst?“

Die Antworten der Teilnehmer/innen hingen davon ab, wie durstig sie zu dem Zeitpunkt waren.

Im Vergleich zu Personen, die nicht trainiert hatten, bewerteten die Personen, die gerade mit dem Training fertig waren und denen deshalb heißer und durstiger war, den Durst eher als unangenehm als den Hunger.

Konsequenzen: Die Lücke im Auge behalten

In vielerlei Hinsicht bestätigen diese Studien unsere Alltagserfahrung. In der Hitze des Gefechts fühlen sich Dinge ganz anders an. Das wussten wir bereits, oder?

Aber genau das ist der Haken. Die Menschen verhalten sich nicht so, als wüssten sie es.

Wenn sie es wüssten, wären sie in ihren Entscheidungen konsequenter. Sie würden berücksichtigen, wie sich ihr aktueller Zustand auf ihre Wahrnehmung auswirkt und sich darauf einstellen. Sie würden „heiße“ Situationen, die sie zu unüberlegtem Verhalten verleiten, besser bewältigen können.

Und wie gut verstehen Eltern die Gefühle ihrer Kinder wirklich?

Es gibt Hinweise darauf, dass Eltern dazu neigen, ihre eigenen Gefühle auf ihre Kinder zu übertragen.

Als Kristin Lagattuta und Kolleg/innen Eltern baten, das Gefühlsleben ihrer Kinder einzuschätzen, fanden sie Hinweise auf eine Unstimmigkeit zwischen dem, was Eltern annehmen, und dem, was Kinder über sich selbst berichten.

Eltern, die berichteten, dass sie häufig negative Gefühle empfinden, überschätzten den Leidensdruck ihrer Kinder eher. Die meisten Eltern unterschätzen jedoch die Ängste und Sorgen ihrer Kinder. Dieser Effekt hing mit dem Optimismus der Eltern zusammen. Wenn es den Eltern gut ging, neigten sie dazu anzunehmen, dass es ihren Kindern genauso ging. Eine weitere Studie bestätigte diese Ergebnisse.

Ich denke, dass wir aus dieser Studie eine Lehre ziehen können. Wir können nicht davon ausgehen, dass unsere eigenen Einschätzungen zuverlässig sind. Wir müssen uns bewusst an die Empathielücke erinnern und Schritte unternehmen, um sie auszugleichen.

Für Eltern ist das besonders wichtig. Kinder erleben die Welt oft auf eine Art und Weise, die Erwachsene nicht nachvollziehen können, und das müssen wir bedenken. Einige Beispiele:

  • Babys, die hilflos und unselbstständig sind, brauchen womöglich mehr Zuspruch. Sie können auch starke Frustrationen erleben.
  • Kinder fürchten sich vor Dingen, die Erwachsene nicht beunruhigen.
  • Teenager sind vielleicht selbstkritischer und werden von sexuellen Reizen eher überrollt.

Ich bin sicher, dir fallen noch mehr Beispiele ein. Auch wenn ich keine Studien zu diesem Thema gefunden habe, würde ich wetten, dass Eltern, die bewusst über die „Empathielücke“ nachdenken, mehr Erfolg dabei haben, die Probleme ihrer Kinder zu erkennen und einfühlsam zu sein.

Wir können unseren Kindern helfen, indem wir sie ihnen die heiß-kalt-Empathielücke erklären.

Kindern helfen, bessere Entscheidungen zu treffen

Kinder verhalten sich manchmal so, dass sie launisch, unsensibel oder willenlos erscheinen. Wir als Eltern können unseren Kindern erklären, warum diese Verhaltensweisen negativ sind.

Doch wir können noch einiges mehr tun. Wenn wir ihnen die heiß-kalt-Empathielücke erklären, helfen wir ihnen dabei, praktische Fähigkeiten zu erlernen, um sich zu verbessern. Wir können zum Beispiel diese Taktiken anwenden:

  • Erkläre, wie die heiß-kalt-Empathielücke funktioniert. Auch Erwachsene haben Schwierigkeiten, die Lücke zwischen „heißem“ und „kaltem“ Zustand zu überwinden. Sprich mit deinem Kind über Situationen, in denen du dich geirrt hast und in denen dein Gefühlszustand eine Rolle spielte.
  • Nutze die Fehler deines Kindes als Gelegenheit zur Diskussion und zum Nachdenken. Wie wurde es von seinem Gemütszustand beeinflusst? Ermutige dein Kind dazu, einen Ansatz zur Problemlösung zu wählen. Was kann es tun, um den selben Fehler in Zukunft zu vermeiden, wenn es wieder in die selbe Situation gerät?
  • Ermutige Kinder dazu, sich zu beruhigen, bevor sie wichtige Entscheidungen treffen.
  • Hilf Kindern, Situationen zu erkennen und zu vermeiden, in denen sie starken Versuchungen ausgesetzt sein könnten.
  • Bereite Kinder auf Unvermeidliches vor. Geht dein Kind zum Zahnarzt? Oder tritt es bei einem Theaterstück auf? Steht eine lange Autofahrt bevor? Sprich mit deinem Kind im Vorfeld darüber, was es zu erwarten hat.
  • Fördere das Einfühlungsvermögen. Bestärke dein Kind darin, die Perspektive anderer Menschen zu berücksichtigen. Fällt es ihm schwer, eine Beziehung aufzubauen? Erinnere es an Zeiten, in denen es selbst in einer ähnlichen „heißen“ Phase war.

Bildquelle: https://unsplash.com/photos/rvtg_angiJY


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