Der Stress eines Familienmitglieds kann die gesamte Familie beeinträchtigen. Wie überträgt sich Stress, welche Auswirkungen hat er und was können wir tun, um Familienstress zu bewältigen?
Folgende Szenarien kommen dir bestimmt bekannt vor:
- Das Baby hört nicht auf zu weinen.
- Dein Kleinkind rennt plötzlich auf eine viel befahrene Straße.
- Dein Teenager hat einen beängstigenden Gefühlsausbruch oder greift zu Selbstverletzungen.
- Deine Familie braucht dich, doch du gefährdest deinen Job (und dein Gehalt), wenn du nicht zur Arbeit gehst.
Die Ursachen sind unterschiedlich, die Auswirkungen jedoch dieselben. Dein Körper wird mit Stresshormonen – Adrenalin und Glukokortikoiden – überflutet. Dein Puls steigt an. Du atmest schneller. Du bist wachsam und angespannt. Dein Blutdruck schießt in die Höhe. Dein Blutzucker steigt an und die Durchblutung wird von nicht lebensnotwendigen Systemen (wie Verdauung und Heilung) zu den Muskeln umgeleitet, die für Kraft und Geschwindigkeit benötigt werden.
Das ist die sogenannte Stressreaktion, die dein Überlebenskit gegen Bedrohungen darstellt. In einer Notsituation ist das hilfreich, hat aber seinen Preis. In den Notfallmodus zu wechseln bedeutet, weniger in andere wichtige Körperfunktionen zu stecken und die Stressreaktion ist an sich schon anstrengend.
Was ist, wenn der Stress lange anhält? Wenn das Gehirn deinen Alltag als ständigen Kampf in einer gefährlichen Welt sieht? Wenn Stress chronisch ist, kann er negative Auswirkungen auf den gesamten Körper und das Gehirn haben. Und dieser „schädliche Stress“ wirkt sich nicht nur auf uns als Individuen aus. Er kann auch Auswirkungen auf unsere sozialen Beziehungen haben. Deshalb ist es sinnvoll, über “ Familienstress“ zu sprechen. Um Familienstress zu bewältigen ist es zunächst wichtig zu verstehen, was Familienstress überhaupt ist:
Familienstress – eine Definition
Stressforscher/innen sehen die Familie als ein ganzheitliches System. Die Familienmitglieder haben ein gemeinsames Verständnis davon, wie die Familie funktioniert und sie übernehmen alle ihre Rollen. Sie haben bestimmte Abläufe und Erwartungen und wenn alles glatt läuft, funktionieren diese Abläufe. Das System funktioniert so, wie erwartet.
Doch was, wenn etwas passiert, das das System belastet? Das kann ein Stressfaktor sein, der auf ein einzelnes Familienmitglied einwirkt, wie z. B. der Stress, den ein Elternteil mit einem zermürbenden Job hat. Oder vielleicht wird ein Kind in der Schule gemobbt. Es kann sich aber auch um einen Stressfaktor aus der Außenwelt handeln, den alle gemeinsam erleben, z. B. eine Naturkatastrophe oder Wohnungsverlust.
Unabhängig davon ist es wichtig zu wissen, dass Stress sich nicht abgrenzen lässt. Wenn eine Person gestresst ist, verändert das ihr gesamtes Verhalten. Wenn ihre gewohnten Routinen und vertrauten Methoden den Herausforderungen nicht gewachsen sind, fühlt sie sich möglicherweise überfordert und löst dadurch körperliche und psychologische Stresssymptome aus. Und diese Symptome wirken sich letztendlich auch auf andere Menschen aus, so dass auch sie unter Stress stehen. Die familiären Beziehungen leiden, Routinen funktionieren nicht mehr und die Betroffenen wissen nicht, wie sie sich anpassen sollen. Einzelne Familienmitglieder stellen vielleicht fest, dass sie nicht die soziale und emotionale Unterstützung bekommen, die sie brauchen.
In der Encyclopedia of Behavioral Medicine fassen Ashley Randall und Guy Bodenmann die Situation so zusammen:
„Familienstress kann als jeder Stressfaktor definiert werden, der ein oder mehrere Familienmitglieder (oder das ganze System) zu einem bestimmten Zeitpunkt beeinflusst, was sich auf die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander, ihre Stimmung, ihr Wohlbefinden sowie auf die Pflege der Familienbeziehungen auswirkt.“
Wie entsteht Familienstress? Häufigr Ursachen
Mitunter liegen die Ursachen für den Stress außerhalb der Familie. Beispiele dafür habe ich bereits erwähnt: Stress am Arbeitsplatz oder in der Schule. Eine Naturkatastrophe. Andere Stressquellen sind der Verlust des Arbeitsplatzes, Diskriminierung aufgrund der Herkunft und finanzielle Nöte. Stress in der Familie kann auch dadurch ausgelöst werden, dass man in einer von Armut, Kriminalität, Gewalt, Lärm oder Umweltverschmutzung geprägten Gegend wohnt.
Auch innerhalb der Familie können Belastungen entstehen, wie z. B.
- Angstzustände oder Depressionen nach der Entbindung;
- Frustration aufgrund von häufigem Weinen des Babys;
- Unzufriedenheit in der Ehe, Streit oder Stress im Zusammenhang mit einer Scheidung;
- zwischenmenschliche Konflikte oder Anspannung (z. B. Streit unter Geschwistern);
- Tod oder Inhaftierung eines Familienmitglieds;
- Krankheit, Behinderung oder psychische Probleme eines Familienmitglieds; und
- das Gefühl von Chaos im Haushalt (z. B. das Gefühl von Unruhe, Eile, ständiger Verspätung, Schwierigkeiten, den Überblick zu behalten, keine Möglichkeit, “ in Ruhe zu überlegen“); und
- Schlafprobleme.
Der letzte Aspekt dieser Liste ist besonders erwähnenswert, weil der Stress, der durch chronischen Schlafmangel entsteht, manchmal unterschätzt wird. Schlafmangel lässt uns nicht nur müde und schlecht gelaunt werden, sondern stört auch unsere natürlichen Strukturen der Bildung von Stresshormonen. Normalerweise erreichen die Stresshormone der Glukokortikoide morgens ihren Höhepunkt und nehmen im Laufe des Tages ab. Doch wenn wir nicht genug Schlaf bekommen, bleibt der Glukokortikoidspiegel tendenziell hoch, was unseren Tagesrhythmus stört, weitere Schlafprobleme verursacht und das Risiko für stressbezogene Krankheiten erhöht. Schlafmangel führt zudem dazu, dass wir Stress psychisch noch intensiver erleben.
Und schließlich ist es klar, dass die Erziehung selbst stressig ist. Eltern fühlen sich möglicherweise überfordert oder unfähig, den Anforderungen der Erziehung gerecht zu werden, weil ihnen die Zeit, das Geld, die emotionalen Ressourcen oder die soziale Unterstützung fehlt, die sie für das Wohlergehen ihrer Familie benötigen. Dieser Stress ist besonders groß, wenn Eltern Kinder mit Entwicklungsstörungen, Verhaltensproblemen oder einer ernsthaften Krankheit haben.
Wie wird Stress zu Familienstress?
Das ist eine wichtige Frage, da manche Menschen davon ausgehen, dass sie die Übertragung von Stress verhindern können, indem sie ihre persönlichen Probleme für sich behalten.
Das macht in gewissem Maße Sinn. Stress kann uns auf jeden Fall ängstlich oder aufbrausend werden lassen, und es ist offensichtlich, wie eine Abfolge von Ereignissen abläuft: Ich bin gestresst, deshalb schreie ich dich an, habe einen Wutanfall oder verhalte mich auf andere Weise so, dass du dich bedroht fühlst. Daraufhin bist du ängstlich oder gereizt, was die nächste Person herausfordert und so geht es weiter. Es ist anstrengend, wenn Familienmitglieder sich gegenseitig angreifen oder sich auf eine feindselige oder beängstigende Weise verhalten. Es ist sinnvoll, solche Situationen zu vermeiden.
Doch das ist nicht die einzige Weise, wie sich Stress in einer Familie ausbreitet.
Stell dir vor, du reagierst auf einen persönlichen Stressfaktor, indem du dich zurückziehst. Du schreist niemanden an. Du legst kein negatives Verhalten an den Tag. Trotzdem fühlst du dich überfordert – ängstlich, wütend oder vielleicht sogar niedergeschlagen. Du bist also eher distanziert und zeigst weniger Zuwendung und Einfühlungsvermögen gegenüber anderen Familienmitgliedern. Du spürst weniger davon, wie es anderen Menschen geht und worüber sie nachdenken.
Welche Folgen hat das? Möglicherweise ist es dir gelungen, deinen Kummer zu unterdrücken, doch dein Verhalten wirkt sich trotzdem auf die Familie aus und verursacht Stress. Familienmitglieder sind auf gegenseitige Unterstützung angewiesen. Fehlt diese Unterstützung – weil du nicht mehr emotional zugänglich, ansprechbar oder einfühlsam bist – schwächt das die Familie. Das ist der Grund, warum Forscher/innen das Zusammenleben mit einem depressiven Familienmitglied zu den negativen Kindheitserfahrungen zählen – eine Erfahrung, die das Risiko für Krankheiten und Probleme erhöht, die durch Stress entstehen (siehe unten).
Wir können Stress also auf mindestens zwei Arten weitergeben – indem wir negatives Verhalten auf andere lenken und indem wir es versäumen, andere einfühlsam und reaktionsschnell zu unterstützen. Doch es gibt noch eine weitere, faszinierende Art und Weise, wie Stress in der Familie übertragen wird: Du kannst dich mit Stress „anstecken“, indem du eine andere Person unter Druck beobachtest.
Dazu muss man nicht direkt mit der anderen Person kommunizieren. Es genügt, wenn man sieht, dass sie sich Gedanken über irgendetwas macht. Die gestresste Person sendet nämlich „Stress-Signale“ aus – über ihren Tonfall, ihre Mimik, ihre Körpersprache und vielleicht sogar durch Gerüche oder Pheromone. Diese Signale teilen deinem Gehirn mit, dass es in der Umgebung eine Gefahr gibt, und dein autonomes Nervensystem reagiert darauf.
Wie früh sind wir für diese Art von “ Stressübertragung“ empfänglich? Man könnte meinen, dass Babys zu unerfahren sind, um Stress anderer wahrzunehmen. Doch wie ich an anderer Stelle erkläre, zeigen Experimente, dass Babys erkennen können, dass ihre Mütter gestresst sind. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass häufige Konflikte zwischen den Eltern das Gehirn von Babys beeinflussen.
Es ist also ein Trugschluss anzunehmen, dass einzelne Familienangehörige ihren Stress für sich behalten können. Ist eine Person gestresst, wirkt sich dies auch auf die anderen aus.
Familienstress bleibt nicht ohne Folgen
Zunächst ist es gut, sich daran zu erinnern: Nicht jede Stresssituation in der Familie führt zu einer Krise. Wenn die Familienmitglieder das Gefühl haben, dass sie es bewältigen können – wenn sie sich die nötige Hilfe holen und wirksame Lösungsstrategien entwickeln – dann übersteht die Familie diese Stresssituation womöglich unbeschadet.
Solche Folgen kommen häufiger vor, wenn die Familienmitglieder emotionale Nähe pflegen, verständlich kommunizieren, sich an einer konstruktiven Problemlösung beteiligen und angemessene Vorstellungen davon haben, wie sie zusammenarbeiten und einander entgegenkommen können. Studien legen nahe, dass warmherzige, einfühlsame Unterstützung einen Schutzpuffer gegen die schlimmsten Auswirkungen von schädlichem Stress darstellt.
Aber natürlich sind Familien nicht immer optimal für die Bewältigung von Stress gerüstet, und selbst die am besten vorbereiteten Familien können in Situationen geraten, die sie überfordern. In diesem Fall können einzelne Familienmitglieder, wie bereits erwähnt, unter einer Reihe von negativen Folgen leiden.
Chronischer, schädlicher Stress setzt den Körper stärkerem Verschleiß aus und erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen. Er schwächt das Immunsystem, bringt das System der Stressreaktion aus dem Gleichgewicht, beschleunigt die Alterung der Zellen und verändert die Funktionsweise der DNA, indem bestimmte Gene aktiviert oder deaktiviert werden. Diese physiologischen Veränderungen führen oft auch zu psychologischen Beschwerden wie Angstzuständen, Depressionen, Impulsivität, Aggression und schlechter Gefühlsregulation.
Kinder sind besonders gefährdet, weil ihr Gehirn mitten in der Entwicklung steckt.
Es gibt also viele Wege, wie sich Familienstress auf die Gesundheit und das Wohlbefinden jedes einzelnen Familienmitglieds auswirkt. Doch das ist noch nicht alles. Stress in der Familie kann auch der Familie selbst schaden, indem er Umgangsformen verändert, wodurch unsere persönlichen Beziehungen geschädigt werden.
Nimm zum Beispiel die Forschung über autistische oder entwicklungsgestörte Kinder. Die Erziehung dieser Kinder ist besonders herausfordernd, und der Stress der dadurch verursacht wird, wirkt sich nicht nur auf das Wohlbefinden der Eltern aus. Der Stress kann auch zu Konflikten zwischen den Eltern führen. Eltern, die gemeinsam erziehen, sind sich möglicherweise nicht einig, wie sie auf das anspruchsvolle Verhalten ihres Kindes reagieren sollen, was zu wütenden Auseinandersetzungen und emotionaler Entfremdung führen kann.
Ähnlicher Elternstress kann auch in anderen Situationen auftreten. Ein Kind mit einer ernsthaften Krankheit zu betreuen. Der Umgang mit einem Baby, das viel weint. Die Bewältigung chronischer Schlafprobleme. Die Erziehung eines Kindes, das sich aggressiv oder unsozial verhält. Steigt der Erziehungsstress, nehmen auch die Spannungen in der Ehe zu.
Wirkt sich Familienstress auch auf die Beziehung zwischen Eltern und Kind aus? Ja, tatsächlich. Studien zeigen, dass gestresste Eltern seltener gute Erziehungsmethoden anwenden – Strategien, die Kindern helfen, mit ihren negativen Gefühlen und Impulsen umzugehen. Gestresste Eltern haben auch ein erhöhtes Risiko, emotional distanziert, traurig, feindselig, überempfindlich oder auf andere Weise unempfänglich für die Bedürfnisse ihrer Kinder zu sein.
Das ist einer der Gründe, warum sehr gestresste Eltern (z. B. solche, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken) eher Kinder mit externalisierenden Verhaltensstörungen haben, d. h. Aggressivität, Unruhe und antisoziales Verhalten. Wenn du gestresst bist, ist es wahrscheinlicher, dass du negative Erziehungsmaßnahmen wählst, was zu mehr Konflikten und Problemen führt.
Wie kann man Familienstress bewältigen
Man muss sich der Stressfaktoren bewusst sein, denen Familien ausgesetzt sind, und schädlichen Stress ernst nehmen. Das Gute daran?
Studien zeigen, dass Eltern und ihre Unterstützer/innen viel tun können, um ihre Familien vor langfristigen Schäden zu schützen.
Studien belegen, dass einfühlsame, aufmerksame Eltern die Kinder vor den körperlichen Folgen von schädlichem Stress bewahren. Sichere, liebevolle Bindungsbeziehungen – und gute Erziehungsstrategien – können viel bewirken. Doch auch Eltern brauchen Unterstützung. Wir sind nicht dafür geschaffen, alles allein zu schaffen und die einzigen Bezugspersonen für unsere Kinder zu sein. Wir brauchen die Unterstützung anderer und die Zeit und den Raum für Selbstpflege.
Stress vor und nach der Geburt
Einige werdende Mütter sind während der gesamten Schwangerschaft schädlichem Stress ausgesetzt, was das Risiko für eine schlechte Entwicklung ihres Babys erhöht. Andere Mütter erleben traumatische Entbindungen. Und nach der Geburt eines Babys haben viele Eltern mit postpartalen Stresssituationen zu kämpfen.
Stress bei Babys und Kindern verstehen
Wie bereits erwähnt, gibt es Hinweise darauf, dass Babys den Stress ihrer Mütter wahrnehmen und wütende verbale Konflikte zwischen streitenden Eltern erkennen. Doch Babys erleben auch auf andere Weise Stress. Alltägliche Probleme – und unsere Reaktionen darauf – führen dazu, dass manche Babys besonders empfindlich reagieren. Bedeutet das, dass sie dem Untergang geweiht sind? Nein. Studien zeigen, dass selbst sehr empfindliche, reizbare Babys sich zu sehr ausgeglichenen Kindern entwicklen – wenn sie einfühlsam und aufmerksam betreut werden.
Welche Dinge setzen Kinder unter Druck, wenn sie älter werden?
In der Kita und in der Schule können Kinder Stress erfahren. Die Ankunft eines Geschwisterkindes oder der Umzug in ein neues Zuhause kann sie belasten. Kinder sind von Mobbing, Zurückweisungen Gleichaltriger und Konflikten mit Lehrern betroffen. Sie können nächtliche Ängste und chronische Probleme ihres Schlafverhaltens entwickeln. Und selbst geringe Beeinträchtigungen des Schlafs können Angstzustände, Stimmungsschwankungen, Wut und eine schlechte Selbstkontrolle auslösen.
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