Es ist normal, dass kleine Kinder ausprobieren, wie man lügt. Ihre Bereitschaft zu lügen hängt jedoch stark von ihrem sozialen Umfeld ab. Versuchen Erwachsene, Kinder durch Drohungen und Bestrafungen unter Kontrolle zu bringen, neigen Kinder eher dazu, ihre Fehler zu vertuschen. Im Gegensatz dazu lügen Kinder seltener, wenn sie wissen, dass Eltern die Wahrheit schätzen und belohnen.
Wie ausgeprägt sind diese Auswirkungen und was können wir tun, um Aufrichtigkeit zu fördern? Nachfolgend findest du einen detaillierteren Einblick in die Forschung und einige faktenbasierte Erkenntnisse, um Kinder dazu zu motivieren, die Wahrheit zu sagen.
Was beeinflusst Lügen und Ehrlichkeit bei Kindern?
Wir alle kennen diesen Impuls: Wir haben etwas Falsches getan und wollen es vertuschen. Sollten wir deswegen lügen oder es zugeben?
Die Forscherin Victoria Talwar und ihre Kolleginnen und Kollegen wussten, dass Kinder, genau wie Erwachsene, die Kosten und den Vorteil von Ehrlichkeit sehr gut einschätzen können. Aber was beeinflusst sie am meisten? Werden Kinder leicht von Moralappellen umgestimmt? Versprechungen, dass ihre Ehrlichkeit uns glücklich machen wird? Oder haben sie vor allem davor Angst, für ihre Fehler bestraft zu werden?
Um diese Fragen zu klären, haben sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein cleveres Experiment ausgedacht und mehr als 370 Kinder (zwischen vier und acht Jahre alt) auf die Probe gestellt. Sie begannen mit einem Verfahren namens „Temptation Resistance Paradigm“, einer Standardaufgabe, die seit Jahrzehnten zur Untersuchung von Lügen bei Kindern eingesetzt wird.
Das Experiment
Das Temptation Resistance Paradigm (zu deutsch: „Leitfaden für die Widerstandsfähigkeit gegen Versuchungen“): Eine Methode zur Untersuchung des Lügens bei Kindern.
Ein Kind sitzt mit dem Rücken zu einem erwachsenen Versuchsleiter oder einer Versuchsleiterin und hört auf das Geräusch eines Spielzeugs, das der Erwachsene in der Hand hält. Ohne sich umzudrehen, um das Spielzeug zu sehen, muss das Kind raten, was es ist.
Nach zwei Runden dieses Spiels erklärt der Versuchsleiter oder die Versuchsleiterin, dass er/sie den Raum kurz verlassen muss. Anschließend legt er/sie das nächste Spielzeug auf einen Tisch hinter dem Kind und erinnert es daran, nicht zu gucken, während er/sie weg ist. Anschließend erklärt er/sie dem Kind, dass sie weiterspielen werden, wenn er/sie zurückkommt.
Nachdem der Versuchsleiter oder die Versuchsleiterin gegangen ist, zeichnet eine versteckte Kamera das Verhalten des Kindes auf. Wenn der Versuchsleiter zurückkommt, fragt er/sie das Kind: „Hast du geschaut?“
Wie verhalten sich Kinder bei der Herausforderung Versuchungen zu widerstehen? Die meisten Kinder können nicht widerstehen. Sie schauen nach. Genau das war auch in diesem Experiment der Fall: Etwa zwei Drittel der Kinder drehten sich um und schauten.
Das ist jedoch nur ein Teil des Ergebnisses. Entscheidend ist, ob die Kinder hinterher lügen oder nicht. Talwars Team wollte tiefer gehen. Denn sie wollten herausfinden, ob die Neigung der Kinder zu lügen vom Verhalten des Erwachsenen abhängt. Daher verliefen die restlichen Experimente wie folgt:
1. Der Erwachsene kommt zurück und erzählt dem Kind von den Folgen des Nachschauens.
- Nach Zufallsprinzip wurde die Hälfte der Kinder dazu ausgewählt, dass der Versuchsleiter oder die Versuchsleiterin ihnen sagt: „Wenn du das Spielzeug angeschaut hast, bekommst du Ärger.“
- Der anderen Hälfte wurde eine beruhigende Botschaft vermittelt. „Egal, was passiert, ich bin nicht sauer auf dich.“
2. Dann – für eine kleine Gruppe von Kindern in dem Experiment – sagt der Erwachsene noch etwas. Er/Sie rät dazu, lieber die Wahrheit zu sagen.
- Hier wurden auch ein Teil der Kinder nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, um zu sehen, was passiert wenn der Versuchsleiter oder die Versuchsleiterin an ihr inneres Gefühl für Recht und Unrecht appelliert. „Es ist sehr wichtig, die Wahrheit zu sagen, denn ehrlich zu sein ist das Richtige, wenn jemand etwas falsch gemacht hat.“
- Die anderen Kinder sollten einen Appell hören, der auf Zustimmung von außen beruhte. „Wenn du ehrlich bist, werde ich sehr glücklich darüber sein, dass du die Wahrheit sagst. Ich freue mich, wenn du ehrlich bist.“ Für Kinder, die bereits vor „Ärger“ gewarnt wurden, kam der Appell mit dem zusätzlichen Hinweis, dass die er/sie „immer noch sauer sein wird, wenn du geschat hast“.
- Ein dritter Teil der Kinder erhielt keine besonderen Appelle, die Wahrheit zu sagen. Ihnen wurde nur gesagt, welche Konsequenzen das Schauen hat.
Insgesamt gab es 6 Gruppen, die jeweils eine andere Kombination aus Konsequenzen für das Schauen („in Ärger“ und „ich wäre nicht böse“) und Appellen zum Sagen der Wahrheit erhielten.
Die Ergebnisse
Spielt es eine Rolle, was der Versuchsleiter oder die Leiterin zu den Kindern sagt?
Wenn es keinen Appell gab, die Wahrheit zu sagen, haben 87 % der Kinder gelogen. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie bedroht wurden oder nicht. Sie haben in beiden Fällen bereitwillig gelogen.
Und die Kinder logen in ähnlichem Maße – 86 % -, wenn ihnen mit Ärger für das nachschauen gedroht wurde. Offenbar fiel der Appell, „das Richtige zu tun“, flach, wenn die Kinder befürchteten, dass sie für ihr Eingeständnis in Schwierigkeiten geraten würden.
Im Gegensatz dazu war der Appell („Ich bin froh, wenn du die Wahrheit sagst“) womöglich effektiver. Von den Kindern, denen gedroht wurde Ärger zu bekommen, logen 61%, als sie das hörten.
Am wenigsten haben die Kinder gelogen, die sowohl den Appell, die Wahrheit zu sagen bekamen und welche vor keinen negativen Folgen Angst hatten. Von diesen Kinder, die dann noch den Appell gehört haben, dass der Versuchsleiter oder die Versuchsleiterin sich freuen würde wenn sie die Wahrheit sagen würden, haben nur 35% gelogen. Bei Kindern, welchen gesagt wurde, dass es wichtig sei die Wahrheit zu sagen, lag die Lügenquote bei etwa 45 %.
Gespräche mit den Kindern – ihnen Gründe zu liefern, warum sie ehrlich sein sollten – waren daher sehr nützlich. Sie einfach zu drängen, das Richtige zu tun, hatte jedoch keine erkennbare Wirkung, vor allem dann nicht, wenn die Kinder auch noch Grund zu der Annahme hatten, dass sie für ihre Ehrlichkeit bestraft werden würden.
Hatten die Kinder nichts zu befürchten – oder glaubten sie, dass der Erwachsene sich freuen würde, wenn sie die Wahrheit sagten -, tendierten sie weniger dazu zu lügen.
Umfeld und Erfahrungen
Das überrascht nicht wirklich, oder? Ich bezweifle, dass viele Erwachsene ein Vergehen, und sei es noch so geringfügig, sofort zugeben würden, nachdem ihnen gesagt wurde, dass sie dafür in Schwierigkeiten geraten würden. Selbstverständlich hängt unsere Bereitschaft, ehrlich zu sein, von mehr ab als nur von einer einzigen Bemerkung eines Fremden. Viele von uns bringen eine Menge Vorwissen und Erfahrung mit, genauso ist es bei Kindern.
Einige Menschen fühlen sich ziemlich sicher, wenn sie ein belastendes Eingeständnis machen. Sie gehen davon aus, dass die Konsequenzen nicht schwerwiegend sein werden und dass sie im schlimmsten Fall damit fertig werden können. Sie sind überzeugt, dass man sie mit Verständnis und Fairness behandeln wird.
Andere sehen vielleicht höhere Risiken. Sie rechnen damit, dass ihr Eingeständnis weniger wohlwollend aufgenommen wird oder dass die Folgen in keinem Verhältnis zum Vergehen stehen.
Ein Beispiel dafür ist ein Kind, das sich in einem sehr strengen, autoritären Umfeld befindet. Wenn jeder Verstoß hart bestraft wird – wenn Autoritätspersonen versuchen, Regeln aufzustellen, die willkürlich oder ungerecht erscheinen – warum sollte es dann die Wahrheit sagen?
Man kann sich leicht vorstellen, dass solche Überlegungen Kinder zum Lügen verleiten können. Gibt es Beweise dafür, dass das passiert?
Fördern strafende Maßnahmen Unehrlichkeit?
Es ist nicht einfach, die Idee zu überprüfen, dass strafende Maßnahmen Unehrlichkeit fördern. Es ist nämlich nicht sinnvoll, Kinder nach dem Zufallsprinzip in einer strengen, autoritären Umgebung aufwachsen zu lassen.
Victoria Talwar und ihr Kollege Kang Lee haben jedoch eine Möglichkeit gefunden, dies zu umgehen: In einem Experiment verglichen sie die Antworten von 84 3- und 4-Jährigen, die zwei sehr unterschiedliche Schulen in Westafrika besuchten.
Alle Kinder lebten in der gleichen Gegend und wiesen ähnliche Noten auf. Aber ihre Schulen verfolgten völlig unterschiedliche Ansätze zur Disziplin.
Eine der Schulen folgte autoritären Prinzipien und strenger Disziplin. Die Kinder wurden routinemäßig geohrfeigt, geschlagen oder gekniffen, wenn sie einen Bleistift vergaßen oder eine Matheaufgabe falsch lösten. Aus den Protokollen der Schule geht hervor, dass die Kinder jeden Tag etwa 40 körperliche Bestrafungen erlebten.
An der anderen Schule wurden keine körperlichen Strafen beobachtet. Kinder, die sich daneben benommen haben, wurden mündlich ermahnt, bekamen eine Auszeit oder wurden ins Büro des Schulleiters geschickt.
Haben sich diese Erlebnisse auf die Neigung der Kinder zum Lügen ausgewirkt? Talwar und Lee führten den vorherig beschriebenen Test durch, aber dieses Mal war alles sehr simpel. Der Erwachsene drohte nicht und hielt auch keine moralischen Appelle bereit. Er/Sie forderte die Kinder einfach auf, nicht zu gucken, und fragte sie anschließend, ob sie es getan hätten.
Und was passierte? Die Ergebnisse stimmten mit der Annahme überein, dass autoritäres Verhalten Unehrlichkeit fördert, selbst wenn nicht ausdrücklich von „Ärger“ oder Bestrafung die Rede ist: Die Kinder aus der strafenden, autoritären Schule logen nicht nur häufiger, sie waren auch besser im Lügen.
Die Kinder in diesem Experiment hatten unabhängig von der Schule, gleich viel nachgeschaut. Aber während nur 55% der Kinder aus der Schule ohne strenge Strafen logen, waren es bei den Kindern aus der Schule mit strengen Strafen satte 94%.
Und die Kinder aus der Schule mit strengen Strafen waren dabei noch viel raffinierter. Auf die Frage, ob sie wüssten, was das für ein Spielzeug sei, wussten sie offenbar, wie wichtig es ist, unwissend zu erscheinen. Fast 70 % gaben an, dass sie nicht wussten, um welches Spielzeug es sich handelte, oder sie rieten absichtlich falsch.
Im Gegensatz dazu antworteten nur 17 % der Kinder aus der Schule, die nicht schwerwiegend bestraft wurden auf diese Weise und ihr Verhalten war viel typischer für Kinder in ihrem Alter. Die 3- und 4-jährigen Lügnerinnen und Lügner verraten sich bei diesen Experimenten in der Regel selbst, indem sie die richtige Antwort herausposaunen.
Bedeutet das, dass eine harte, strafende Umgebung Kinder dazu erzieht, listiger zu sein?
Möglicherweise nicht. Es handelt sich um eine einzelne, kleine Studie, und die Forscher und Forscherinnen weisen darauf hin, dass die Ergebnisse nicht endgültig sind. Zum Beispiel wurden die Kinder in dieser Studie nicht nach dem Zufallsprinzip auf die eine oder andere Schule verteilt. Vielleicht hatten die Kinder von der bestrafenden Schule etwas anderes gemeinsam – etwas, das die Ergebnisse beeinflusst haben könnte.
Allerdings wissen wir, dass der Mensch durch Wiederholungen lernt, und das gilt für das Lügen genauso wie für alles andere. Außerdem zeigen Experimente, dass kleine Kinder bessere Fähigkeiten zum Lesen von Gefühlen entwickeln, sobald sie sich in der Kunst der Täuschung üben.
In einer Studie lernten viele kleine Kinder spontan zu lügen, nachdem sie aufgefordert wurden, ein Spiel zu spielen, bei dem man lügen musste, um zu gewinnen. In 10 Sessions fanden sie heraus, wie man lügt, und entwickelten schärfere Einblicke in die Denkweise anderer.
Es gibt also gute Gründe für die Annahme, dass harte, strafende und autoritäre Disziplin ein Umfeld schafft, das Kinder zum Lügen ermutigt. Außerdem deuten die Ergebnisse von Experimenten darauf hin, dass unsere moralischen Appelle, die Wahrheit zu sagen, wenig Wirkung zeigen, wenn Kinder Bestrafung fürchten.
Wenn wir Kinder vom Lügen abhalten wollen, müssen wir ihnen deutlich vermitteln, dass es sich lohnt, ehrlich zu sein. Und wie? Die Forschung hat einige Richtlinien vorgeschlagen.
Wie du Ehrlichkeit bei Kindern fördern kannst
1. Überzeuge dein Kind davon, dass du dich freust, wenn es die Wahrheit sagt.
Wir können dies durch direkte Appelle tun. Wir können diese Botschaft aber auch vermitteln, indem wir Kindern zeigen, dass wir die Ehrlichkeit anderer schätzen.
Studien zeigen zum Beispiel, dass Kinder auf Erzählungen über positive Vorbilder reagieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie lügen, ist geringer, wenn sie von Personen hören, die dafür gelobt werden, ehrlich zu sein und Fehler zuzugeben.
Die Forschung zeigt auch, dass Kinder auf das Feedback achten, das ihre Altersgenossen für das Erzählen der Wahrheit erhalten. Wenn Vorschulkinder beobachten, dass das Geständnis eines anderen Kindes mit Freude oder Lob aufgenommen wird, sind sie eher bereit, ihre eigenen Vergehen zuzugeben.
2. Widerlege die Vorstellung, dass schlechte Entscheidungen jemanden zu einem schlechten Menschen machen
Die Forschung bestätigt, dass Kinder – wie Erwachsene – lügen und betrügen, um ihren Ruf zu schützen. Manche Menschen haben aber mehr als nur den Wunsch, gut dazustehen. Vielleicht glauben sie, dass Fehlverhalten ein Beweis für einen Charakterfehler ist – etwas, das nicht verbessert oder korrigiert werden kann. Infolgedessen geben sie ihre Fehler nur ungern zu.
Daher können wir das Lügen bei Kindern möglicherweise eindämmen, wenn wir ihnen beibringen, wie man sich weiterentwickelt. Jeder macht Fehler, und wenn man etwas Schlechtes tut, heißt das nicht, dass man ein schlechter Mensch ist. Das Wichtigste ist, Wiedergutmachung zu leisten und sich zu verbessern. Studien haben gezeigt, dass eine auf Verbesserung ausgerichtete, „wachstumsorientierte“ Denkweise Kindern dabei helfen kann, sich von intellektuellen Fehlern wieder aufzurappeln; es scheint also plausibel, dass dies Kindern auch bei zwischenmenschlichen Fehlverhalten helfen kann.
3. Pass darauf auf, wie du deine Kinder disziplinierst. Wenn Erwachsene ein strenges und strafendes Umfeld schaffen, ist es wahrscheinlicher, dass Kinder eine Gewohnheit zum Lügen entwickeln.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass eine strenge, autoritäre Erziehung die Voraussetzungen für Täuschungen schafft. Sie erhöht die Motivation eines Kindes zu lügen – um ein Vergehen zu vertuschen, anstatt es zuzugeben.
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