Das Verfahren des Fremde-Situations-Tests: Der erste Test zur Bindung von Babys an ihre Eltern
Wir hören viel über „sichere Bindungsbeziehungen“. Doch was genau meinen Forscher mit diesem Begriff? Die Psychologin Mary Ainsworth hat das Verfahren der fremden Situation entwickelt, um die Qualität der Bindungsbeziehung eines Babys zu seiner Mutter zu beurteilen. Dieser Artikel
- erklärt das Verfahren,
- erörtert, wie Babys darauf reagieren,
- erklärt, warum manche Kinder unsichere Bindungsbeziehungen haben, und
- untersucht, wie sich frühe Bindungsbeziehungen auf die Entwicklung im Erwachsenenalter auswirkt.
Darüber hinaus befasst sich der Artikel mit einer wichtigen Frage: Inwieweit wurde in der Forschung die Rolle der Mutter überbetont? Sollten wir nicht auch über die Rolle der Väter, Großeltern und anderer Bezugspersonen sprechen?
Was ist eine sichere Bindungsbeziehung?
Nach den Theorien von John Bowlby haben Kinder eine sichere Bindungsbeziehung, wenn sie sich der Unterstützung durch eine Bezugsperson gewiss sind. Sie erleben die Bezugsperson als zugänglich und ansprechbar und betrachten sie – während sie im Kleinkindalter ihre Unabhängigkeit entwickeln – als „Sicherheit“. Solange die Bezugsperson in der Nähe ist, können Kinder mit einer sicheren Bindungsbeziehung frei erkunden, spielen und mit anderen in Kontakt treten.
Darüber hinaus neigen Babys mit einer sicheren Bindungsbeziehung dazu
- die Bezugsperson während der Erkundung im Auge zu behalten,
- sich der Bezugsperson zu nähern oder sie zu berühren, wenn sie ängstlich oder verzweifelt sind, und
- Trost in Nähe und Kontakt zu finden.
Langfristig scheinen Kinder mit sicheren Bindungsbeziehungen zahlreiche Vorteile zu haben – emotional, sozial, gesundheitlich und kognitiv.
Doch woher kannst du wissen, ob Forscher dein eigenes Baby als sicher gebunden einstufen würden? Wie misst man eigentlich Bindungsbeziehungen? Die ursprüngliche Methode, die von der einflussreichen Psychologin Mary Ainsworth entwickelt wurde, ist das Verfahren der „fremden Situation“ im Labor. Dabei wird getestet, wie Babys oder kleine Kinder auf die zeitweilige Abwesenheit ihrer Mütter reagieren. Und so funktioniert es.
Die fremde Situation
Zu Beginn werden Mutter und Kind in einen Raum mit Spielzeug geführt. Dann durchläuft das Kind folgende Phasen, wobei jede Phase etwa 3 Minuten dauert.
- Die Mutter setzt sich auf einen Stuhl, während das Kind den Raum erkundet.
- Eine sympathische Frau, die das Kind noch nicht kennt, betritt den Raum. Sie spricht mit der Mutter und setzt sich dann auf den Boden, um mit dem Kind zu spielen.
- Die Mutter verabschiedet sich und verlässt den Raum. Das Kind bleibt bei der freundlichen Fremden.
- Die Mutter kommt zurück und die Fremde verlässt den Raum. Die Mutter tröstet das Kind und ermutigt es, mit den Spielsachen zu spielen.
- Die Mutter verlässt den Raum ein zweites Mal. Diesmal wird das Kind komplett allein gelassen. Niemand sonst ist im Zimmer.
- Der freundliche Fremde kehrt zurück und tröstet das Kind. Die Fremde versucht, das Kind mit Spielzeug abzulenken.
- Die Mutter kehrt für ein zweites Wiedersehen zurück. Wieder geht die Fremde und die Mutter versucht, ihr Kind zu trösten.
So reagieren Kinder auf diese Situation
Wie der Name schon sagt, wurde die fremde Situation entwickelt, um Kinder mit einer ungewöhnlichen, aber nicht überwältigenden Angst zu konfrontieren. Wenn ein Kind den Fremde-Situation-Test durchläuft, interessieren sich die Forscher für zwei Dinge:
- wie sehr das Kind den Raum erkundet und
- wie das Kind auf die Rückkehr seiner Mutter reagiert.
Die Reaktion eines Kindes auf die fremde Situation folgt in der Regel einem von vier Verhaltensmustern.
Sicher gebundene Kinder: Freie Erkundung und Freude bei der Rückkehr der Mutter
Kinder mit einer sicheren Bindungsbeziehung erkunden den Raum frei, wenn ihre Mutter anwesend ist. Sie verhalten sich freundlich gegenüber der fremden Person. Wenn die Mutter den Raum verlässt, werden sie möglicherweise ängstlich und gehemmt, erkunden den Raum weniger und meiden den Fremden. Doch wenn sie wieder mit ihren Müttern vereint sind, beruhigen sie sich schnell wieder. Wenn sie weinen, gehen sie zu ihren Müttern und halten sie fest. Das tröstet sie, und sobald sie beruhigt sind, sind sie bald wieder bereit, die Welt eigenständig zu erkunden. Ihre Mütter gehen auf ihre Bedürfnisse ein. Daher wissen sicher gebundene Kinder, dass sie sich auf ihre Bezugspersonen verlassen können, wenn sie unter Stress stehen.
Vermeidende, unsichere Kinder: Wenig Erkundung und wenig emotionale Interaktion mit der Mutter
Kinder mit einer meidenden Bindungsbeziehung erkunden nicht viel und zeigen wenig Emotionen, wenn ihre Mutter sie verlässt. Sie scheinen nicht verärgert darüber zu sein, dass sie mit einer fremden Person allein gelassen werden. Sobald ihre Mutter zurückkommt, ignorieren diese Kinder sie oder meiden den Blickkontakt mit ihr.
Resistent-unsichere Kinder (auch „ängstliche“ oder „ambivalente“ Kinder genannt): Wenig Erkundung, große Trennungsangst und eine gespaltene Reaktion auf die Rückkehr der Mutter
Wie vermeidende Kinder erkunden auch Kinder mit einer resistenten oder ängstlichen Bindungsbeziehung nicht viel von sich aus. Doch im Gegensatz zu vermeidenden Kindern sind sie misstrauisch gegenüber Fremden und können sehr verzweifelt sein, wenn die Mutter weggeht.
Wenn die Mutter zurückkommt, sind diese Kinder unentschlossen. Sie wollen zwar die Nähe zur Mutter suchen, sind aber auch verärgert oder sogar wütend, weil die Mutter gegangen ist. Infolgedessen klammern sich diese Kinder zwar an die Mutter, finden aber keinen Trost in deren Bemühungen, sie zu trösten. Sie sind nicht leicht zu besänftigen.
Unorganisierte, unsichere Kinder: Sie erforschen wenig und reagieren verwirrt auf die Mutter.
Kinder, die unorganisiert sind, können eine Mischung aus vermeidenden und widerständigen Verhaltensweisen zeigen. Aber das Hauptmerkmal ist die Verwirrung und Zerrissenheit – daher die Bezeichnung „unorganisiert“. Bei Kindern, die vermeidende oder widerständige Bindungsbeziehungen haben, wird eine bestimmte Strategie verfolgt. Das vermeidende Kind verfolgt die Strategie, sich von der Bezugsperson zu lösen. Das resistente Kind signalisiert der Bezugsperson ziemlich konsequent seine negativen Emotionen. Es reagiert mit untröstlichem Kummer auf die Trennung, zeigt Angst und Wut.
Kinder mit einer unorganisierten Bindungsbeziehung hingegen scheinen sich nicht auf ein bestimmtes Verhaltensmuster festzulegen. Sie wollen sich ihrer Bindungsperson nähern, um Sicherheit zu erfahren. Doch haben auch Angst, was dazu führt, dass sie zwischen Annäherung und Rückzug schwanken. Sie legen in der fremden Situation merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag, wie z. B. an Ort und Stelle zu verharren. Oder scheinbar ziellose Bewegungen zu wiederholen.
Weitere Möglichkeiten Bindungsbeziehung zu messen
Ja. Der Fremde-Situations-Test wurde für sehr junge Kinder entwickelt. Wenn Kinder älter werden, versuchen Forscher/innen andere Methoden, wie z. B. die Geschichtenstamm-Untersuchung, bei der Kindern fiktive Szenarien (mit einem kleinen Protagonisten, der Probleme oder Schwierigkeiten hat) präsentiert werden und sie beschreiben sollen, was als nächstes geschieht.
Beschreibt die Antwort des Kindes eine sichere Bindungsbeziehung ( der Protagonist sucht eine primäre Bezugsperson und erhält wirksame Hilfe), wird dies als Beweis für eine sichere Bindungsbeziehung gewertet. Andere Antworten können auf eine unsichere Bindungsbeziehung hindeuten, z. B. auf eine vermeidende (der Protagonist weigert sich, Hilfe zu suchen) oder widerständige (der Protagonist sucht Hilfe, aber die Maßnahmen der Bezugsperson helfen ihm nicht).
Es gibt auch Fragebögen und Interviews zur Ermittlung von Bindungsbeziehungen. Wie das Attachment Interview for Childhood and Adolescence (AICA) und das Adult Attachment Interview (AAI).
Wie entstehen sichere Bindungsbeziehungen?
Belege dafür, dass die Erziehung die Bindungsbeziehung von Babys beeinflusst
Zahlreiche Studien belegen denselben Zusammenhang. Wenn Bezugspersonen einfühlsam und aufmerksam sind, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie sichere Bindungsbeziehungen mit ihren Kindern aufbauen. Eine aktuelle Studie ergab zum Beispiel, dass Mütter, die eine hohe Feinfühligkeit gegenüber ihren Babys an den Tag legten und bei Interaktionen mit ihren Babys Oxytocinschübe erlebten, eher gute Bindungsbeziehungen mit ihren Kindern hatten.
Beweist dies einen Zusammenhang? Nicht unbedingt. Möglicherweise entwickeln Babys sichere Bindungsbeziehungen, da sie bestimmte Gene von ihren Eltern geerbt haben. Gene, die sowohl die Tendenz, sichere Bindungsbeziehungen zu entwickeln, als auch die Tendenz, sensibel und ansprechbar gegenüber Babys zu sein, hervorrufen.
Es gibt jedoch stichhaltige Beweise gegen die Annahme, dass genetische Unterschiede die Ursache für die Unterschiede in Bindungsbeziehungen sind.
Adoptivkidner zum Beispiel. Sie teilen keine Gene mit ihren Eltern, doch Studien zeigen, dass adoptierte Babys – wie andere Babys auch – eher eine sichere Bindungsbeziehung entwickeln, wenn ihre Eltern einfühlsam, ansprechbar und emotional zugänglich sind.
Außerdem zeigen Studien, dass eine frühe Förderung der Bindungsbeziehung die Qualität dieser erhöht, indem Eltern lernen, wie sie ihre Feinfühligkeit erhöhen.
Auch bei Untersuchungen der Gene, bei denen man einen Zusammenhang mit Bindungsbeziehungen erwarten würde – Gene, die sich auf die Regulierung von Dopamin, Serotonin und Oxytocin auswirken und die Entwicklung sozialer Beziehungen beeinflussen -, gab es keine eindeutigen Beweise. Einige wenige, kleine Studien haben einen Zusammenhang mit Bindungsbeziehungen festgestellt. Die Ergebnisse größerer Studien stimmten hiermit jedoch nicht überein. Insgesamt gibt es kaum oder gar keine Beweise dafür, dass diese Gene eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von Bindungsbeziehungen eines Kindes spielen.
Es gibt also gute Argumente für die Bedeutung der Erziehung. Doch das wirft die folgende Frage auf: Was heißt es, ein einfühlsamer, aufmerksamer Elternteil zu sein? Wie sollten Bezugspersonen sich ihren Babys gegenüber verhalten?
Kuscheln als Schlüssel zu einer sicheren Bindungsbeziehung zu Babys?
Ainsworth und andere haben Richtlinien entwickelt, um zu beurteilen, ob ein Elternteil sich „einfühlsam“ und „ansprechbar“ verhält oder nicht. In der Regel suchen die Forscher nach Anzeichen dafür, dass die Eltern
- die Signale des Babys wahrnehmen (z. B. Aufregung oder Weinen),
- diese Signale richtig interpretieren (z. B. dass das Baby weint, weil es Hunger hat)
- sofort und angemessen reagieren.
Die Eltern erhalten Punkte, und die Punkte stehen im Zusammenhang mit den Ergebnissen. So haben Eltern, die auf der Mütterlichen Sensibilitätsskala (engl. Maternal Sensitivity Scale) von Mary Ainsworth eine hohe Punktzahl erreichen, mit höherer Wahrscheinlichkeit Babys, die eine sichere Bindungsbeziehung haben.
Doch die Zusammenhänge sind bestenfalls mittelmäßig ausgeprägt. Und in einigen Ländern mit niedrigem sozioökonomischem Status, sind die Zusammenhänge sogar ziemlich schwach. Dies veranlasste Susan Woodhouse und ihre Kollegen dazu, die Bedeutung bestimmter Komponenten von Sensibilität und Einfühlungsvermögen in Frage zu stellen. Wie z. B. ein guter „Gedankenleser“ zu sein und schnell auf die Notlage eines Babys zu reagieren.
Vielmehr hat sich das Team von Woodhouse über ein sehr grundlegendes, sehr physisches Verhalten Gedanken gemacht. Hierbei handelt es sich darum, ein weinendes Baby solange im Arm zu halten, bis es sich vollständig beruhigt hat. Die Forscherinnen und Forscher nennen das „sichere Grundversorgung“ und beobachteten es in einer Studie mit mehr als 80 Paaren von Mutter und Kind. Diese kamen alle aus einkommensschwachen Familien. Was fand das Team von Woodhouse heraus?
Herkömmliche Messungen der mütterlichen Sensibilität standen in keinem Zusammenhang mit der Bindungsbeziehung. Doch die “ sichere Grundversorgung“ hatte einen großen Einfluss. Die Chancen eines Babys, eine sichere Bindungsbeziehung zu entwickeln, wurden mehr als verdoppelt.
Darüber hinaus wendeten die Mütter in dieser Studie nicht jedes Mal, wenn ihre Babys Hilfe brauchten, diese Form der Beruhigung an. Selbst wenn die Mütter weniger häufig für eine sichere Grundlage sorgten – nur 50 % der Zeit – entwickelten die Babys mit höherer Wahrscheinlichkeit eine sichere Bindungsbeziehung.
Was ist mit den Faktoren, die eine unsichere Bindungsbeziehung fördern? Gibt es bestimmte Erfahrungen in der Kindheit, die Babys einem erhöhten Risiko aussetzen?
Woodhouses Team ging auch diesen Fragen nach und fand heraus, dass Babys mit höherer Wahrscheinlichkeit eine schlechte Bindungsbeziehung entwickeln, wenn ihre Mütter auf ihr Weinen in einer Weise reagierten, die sie nicht beruhigte. Dazu gehörten zum Beispiel ein rauer Tonfall, die Anweisung an das Baby, nicht zu weinen, oder das Beenden des Körperkontakts, bevor das Baby aufhörte zu weinen.
Woodhouse und ihre Kollegen stellten auch einen Zusammenhang zwischen einer unsicheren Bindungsbeziehung und furchteinflößendem Verhalten der Mutter fest – wie das Anschreien eines weinenden Babys oder das plötzliche Erscheinen vor dem Gesicht des Babys. Wie Woodhouse in der Pressemitteilung der Lehigh University erklärt, ist ein solches Verhalten ein Indiz für eine schlechte Bindungsbeziehung, “ selbst wenn es nur einmal“ während des gesamten Zeitraums der Studie vorkam.
„Ähnlich“, sagt Woodhouse, “ führt es zu Unsicherheit, wenn die Mutter etwas wirklich Beängstigendes tut, auch wenn das Baby nicht in Not ist, z. B. ‚Tschüss‘ sagen und so tun, als ob sie das Haus verlässt, das Baby so in die Luft zu werfen, dass es weint, das Baby nicht zu beschützen, beispielsweise wenn man vom Wickeltisch weggeht, es nicht vor einem wütenden Geschwisterkind beschützen, oder sogar etwas, das wir ‚unnachgiebiges Spielen‘ nennen – darauf bestehen, dass das Baby spielt und sich aufregt, wenn es überfordert ist – auch das führt zu Unsicherheit“.
Die Ergebnisse decken sich mit bisherigen Studien, und manche Forscher sind der Meinung, dass beängstigendes elterliches Verhalten besonders mit der Entwicklung einer gestörten Bindungsbeziehung in Verbindung gebracht werden kann.
Kinder, die missbraucht oder vernachlässigt werden, leiden eher unter einer ungeordneten Bindungsbeziehung. Doch Babys müssen nicht missbraucht oder vernachlässigt werden, um eine ungeordnete Bindungsbeziehung zu entwickeln. In manchen Fällen sind die Eltern selbst ängstlich oder verängstigt und haben mit eigenen ungelösten Traumata zu kämpfen, so dass sie diese Ängste ungewollt auf ihre Babys übertragen. In anderen Fällen sind Eltern einfach unsensibel gegenüber dem, was Babys furchteinflößend finden.
Sollte das auf dich zutreffen, was kannst du dagegen tun? Studien zeigen, dass man etwas tun kann. In Studien, in denen Eltern aus Risikofamilien darin trainiert wurden, die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Kinder besser zu deuten, war die Wahrscheinlichkeit geringer, dass die Kinder eine ungeordnete Bindungsbeziehung hatten.
Wie wirkt sich das Temperament eines Babys auf Bindungsbeziehungen aus?
Manche Babys sind eher verunsichert als andere, und diese Unterschiede spiegeln eine Kombination aus genetischen und umweltbedingten Faktoren wider. Ist es möglich, dass “ temperamentvolle“ Babys ein höheres Maß an elterlichem Einfühlungsvermögen benötigen, um sichere Bindungsbeziehungen zu entwickeln?
Wenn ja, könnten wir davon ausgehen, dass einige Kinder mit herausforderndem Temperament nicht die nötige Unterstützung erhalten, was zu einem höheren Risiko für unsichere Bindungsbeziehungen führen könnte. Was sagen allerdings die Beweise? Als Forscher die Ergebnisse von mehr als 100 Studien analysierten, fanden sie nur einen schwachen Zusammenhang zwischen Temperament und unsicherer Bindungsbeziehung und einen geringen oder gar keinen Zusammenhang zwischen Temperament und anderen Formen der Bindungsbeziehung.
Beeinflusst Stress die Entwicklung der Bindungsbeziehung eines Kindes?
Theoretisch könnte Stress eine unsichere Bindungsbeziehung verursachen, indem die Fähigkeit des Kindes beeinträchtigt wird, das Verhalten der Eltern zu erkennen und zu deuten. Stress kann es einem Kind auch erschweren, die beste und gesundeste Reaktion auf die Trennung von seiner Mutter und ihre anschließende Rückkehr an den Tag zu legen. Dies könnte eine mögliche Erklärung dafür sein, weshalb Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status seltener sichere Bindungsbeziehungen entwickeln.
Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Sichere Bindungsbeziehungen haben eine schützende Wirkung – sie schützen Kinder vor den negativen Folgen von schädlichem Stress.
Wirken sich frühe Bindungsbeziehungen auf das Erwachsenenleben aus?
Wie bereits erwähnt, helfen sichere Bindungsbeziehungen Kindern dabei, schädlichen Stress zu verarbeiten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Kinder mit unsicheren Bindungsbeziehungen ein höheres Risiko für gesundheitliche Probleme im Erwachsenenalter haben.
In einer Studie, in der mehr als 160 Menschen von klein auf beobachtet wurden, fanden Forscher heraus, dass Personen, die als Babys und Kleinkinder unsichere Bindungsbeziehungen hatten, im Alter von 32 Jahren mit größerer Wahrscheinlichkeit gesundheitliche Beschwerden hatten.
Es gibt auch einen direkten Zusammenhang zwischen Bindungsbeziehungen und der Entwicklung emotionaler und kognitiver Fähigkeiten eines Kindes. So zeigen Kinder mit sicheren Bindungsbeziehungen in der Regel ein ausgeprägteres Gespür für Emotionen und schneiden bei Tests zur Konzentrationsfähigkeit besser ab. In Studien weltweit wurde nachgewiesen, dass Kinder mit unsicheren Bindungsbeziehungen ein leicht erhöhtes Risiko haben, an Depressionen zu erkranken.
Es ist also naheliegend, dass dies die Grundlage für ein gesünderes soziales Verhalten ist, und Studien belegen, dass frühe Bindungsbeziehungen einen Ausblick darauf geben, wie Erwachsene mit Konflikten umgehen. In einer anderen Langzeitstudie fanden Forscher heraus, dass Kinder mit einer unsicheren Bindungsbeziehung im Alter von 12 und 18 Monaten als junge Erwachsene mit größerer Wahrscheinlichkeit auf Probleme mit dem Partner reagieren, indem sie sich zurückziehen und ihre Gefühle unterdrücken.
Dennoch ist es wichtig zu verstehen, dass frühe Erlebnisse mit Bezugspersonen uns nicht unwiderruflich bestimmen. Bindungsbeziehungen können sich im Laufe der Zeit verändern, und obwohl Bindungsbeziehungen in der Kindheit den Grundstein für Beziehungen im Erwachsenenalter legen können, sind sie nicht ausschlaggebend für das Verhalten im Erwachsenenalter.
Kulturelle Unterschiede?
Internationale Studien bezüglich des Fremde-Situations-Tests
In Studien, in denen drei Bindungsbeziehungen klassifiziert wurden (sichere, vermeidend-unsichere und resistent-unsichere), wurden etwa 21 % der amerikanischen Babys als vermeidend-unsicher, 65 % als sicher und 14 % als resistent-unsicher eingestuft. Die gleiche Verteilung ergibt sich, wenn Forscher die Ergebnisse weltweit durchgeführter Studien zusammenfassen.
Jedoch gibt es regionale Unterschiede. Eine in Bielefeld durchgeführte Studie berichtet zum Beispiel von relativ hohen Raten vermeidend-unsicherer Babys (52%). Auch in Indonesien, Japan und den Kibbuzim in Israel wurden relativ hohe Prozentsätze von Säuglingen mit Bindungsstörungen festgestellt.
Studien, die die vierte Klassifizierung – ungeordnete Bindungsbeziehung – anerkennen, weisen außerdem darauf hin, dass es Unterschiede im Bezug auf die Bevölkerungsgruppen gibt.
Die Häufigkeit einer desorganisierten Bindungsbeziehung liegt bei weißen amerikanischen Kindern aus der Mittelschicht bei etwa 12 %, bei Kindern mit niedrigem sozioökonomischem Status ist sie jedoch viel höher. Desorganisierte Bindungsbeziehungen sind auch bei den Dogon in Mali (~25%), bei Babys in den Außenbezirken von Kapstadt, Südafrika (~26%), bei Kindern aus einkommensschwachen Familien in Sambia (~29%) und bei unterernährten Kindern in Chile verbreitet.
Warum sich die einzelnen Bevölkerungsgruppen unterscheiden
In einigen Fällen spiegeln diese Ergebnisse eher Unterschiede in der Wahrnehmung des Fremden-Situations-Tests durch die Babys wider, als tatsächliche Differenzen in der Bindungsbeziehung.
Israelische Kinder, die in Kibbuzim aufwachsen, treffen zum Beispiel selten Fremde. Ihre hohen Raten an Abwehrverhalten in fremden Situationen könnten daher eher mit erhöhter Angst zu tun haben als mit der Art ihrer mütterlichen Bindung.
Auch die japanischen Ergebnisse wurden wahrscheinlich durch die Tatsache verzerrt, dass japanische Babys praktisch nie von ihren Müttern getrennt sind. Auch legen die Japaner nicht so viel Wert auf Unabhängigkeit und eigenständige Erkundung wie beispielsweise in europäischen Kulturen, was zur Folge hat, dass auch Babys, die eigentlich eine sichere Bindungsbeziehung haben, weniger erkunden.
In anderen Fällen können die Resultate des Tests aber auch tatsächliche kulturelle Unterschiede in der Bindungsbeziehung der Kinder zu ihren Müttern aufzeigen. So kamen Forscher, die verschiedene Bindungsbeziehungen untersuchten, zu dem Schluss, dass deutsche und amerikanische Babys die fremde Situation auf ähnliche Weise wahrnehmen. Die relativ hohe Quote an vermeidend-unsicheren Bindungsbeziehungen in Deutschland könnte also auf tatsächliche Unterschiede in der Erziehung in Deutschland zurückzuführen sei.
Evolutionäre Erwägungen
Ein Kritikpunkt am Verfahren des Fremde-Situations-Tests ist, dass er sich fast ausschließlich auf die Beziehung zwischen Mutter und Baby konzentriert. Dies könnte auf eine kulturelle Befangenheit zurückzuführen sein. Viele Experten für Bindungsbeziehungen kommen aus industrialisierten Gesellschaften, in denen Mütter normalerweise die meiste Verantwortung für die Kinderbetreuung tragen.
Doch in manchen Familien verbringen die Väter einen Großteil der Zeit mit ihren Kindern. Und in vielen Teilen der Welt leisten Großmütter, Tanten, Onkel und Geschwister einen wesentlichen – sogar entscheidenden – Beitrag zur Kinderbetreuung. In einigen modernen Hirtenvölkern, wie z. B. den Aka und Efe in Zentralafrika, werden Babys die meiste Zeit des Tages von jemand anderem als ihrer Mutter betreut.
Solche Belege haben Anthropologen dazu inspiriert, „die Annahmen über die Besonderheit der Mutter-Kind-Beziehung zu überdenken“. Die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy argumentiert beispielsweise, dass Bezugspersonen, die nicht die Mutter sind, in der menschlichen Evolution eine wichtige Rolle spielten. Haben Babys mehrere Bezugspersonen, tragen ihre Mütter weniger Lasten bei der Kindererziehung. Mütter können zudem mehr Kinder bekommen, und die Kinder können langsamer erwachsen werden.
Interessanterweise unterscheiden diese Merkmale- höhere Geburtenrate und ausgedehnte Kindheit- den Menschen von unseren nächsten lebenden Verwandten, den Menschenaffen. Affenmütter müssen – im Gegensatz zu vielen Menschen – ihre Kinder ohne Hilfe großziehen.
Möglicherweise waren unsere Vorfahren also durch „allocare“ (nicht-mütterliche Kinderbetreuung) im Vorteil – dadurch konnten wir uns schneller fortpflanzen als Tiere, die dem Menschen ähneln. In diesem Fall wäre es unsinnig anzunehmen, dass Babys ausschließlich auf die Bindungsbeziehung zur Mutter als Bezugsperson angewiesen sind.
Diese Feststellung schmälert zwar nicht die Bedeutung des Fremde-Situations-Tests und Studien hierzu, doch sie erinnert uns daran, dass Babys sich an mehr als eine Bezugsperson binden können.
Die Forschung bestätigt, dass Babys sichere Bindungsbeziehungen sowohl zu ihren Müttern als auch zu ihren Vätern aufbauen. Studien zeigen, dass Kleinkinder sichere Bindungsbeziehungen zu ihren Betreuern in der Kita aufbauen können. Schulkinder können sichere Bindungsbeziehungen zu ihren Lehrer/innen aufbauen. Und wenn Kinder dies tun – also ihr Netzwerk an sicheren Beziehungen ausbauen – ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie sich gut entwickeln.
Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/mann-liebe-menschen-frau-4617316/