Die besten Bücher für Leseanfänger/innen beschränken sich auf ein Minimum an Details, und das gilt sowohl für die Illustrationen als auch für den Text. „Aufwändige“ Bilder können ablenken und das Leseverständnis eines kleinen Kindes beeinträchtigen.
Bücher, die für junge Leserinnen und Leser gedacht sind, können sehr reizvoll gestaltet sein. Der Text wird durch auffällige, bunte und detailreiche Bilder unterstützt. So wird dein Kind noch mehr zum Lesen verführt, oder?
Herausforderungen für Leseanfänger
Aber Lesen ist eine anspruchsvolle kognitive Tätigkeit – vor allem für Kinder, die gerade erst anfangen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Untersuchungen zeigen, dass manche Bilder zu interessant sind – zu detailliert und ablenkend. Sie lenken die Aufmerksamkeit vom Text ab und machen es den Kindern schwerer, sich auf die Kernaufgabe des Lesens zu konzentrieren.
Es gibt sogar Hinweise dafür, dass junge Schulkinder weniger von einem Text verstehen, wenn er von zu detaillierten Bildern begleitet wird.
Um zu verstehen, wie das funktioniert, bedenke, welchen Herausforderungen sich junge Leser/innen stellen:
- Sie sollen die Buchstaben auf der Seite erkennen und sie in Laute umwandeln.
- Danach müssen sie die einzelnen Laute aneinanderreihen, um ein Wort zu bilden, welches sie aussprechen sollen.
- Dann müssen sie die Bedeutung dieses Wortes identifizieren und sie im Kurzzeitgedächtnis behalten, während sie das nächste Wort entschlüsseln.
- Nachdem sie alle Wörter eines Satzes entschlüsselt haben, müssen sie in der Lage sein, diese Wörter der Reihe nach in Gedanken wiederzugeben. Sie müssen die Grammatik des Satzes verstehen. Sie müssen die Gesamtaussage des Textes entziffern.
Was ist, wenn ein Satz zu lang ist? Oder eines der Wörter besonders schwierig zu entziffern ist? Der gesamte Prozess hängt maßgeblich von der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses des Kindes ab.
Wir können nur eine bestimmte Menge auf einmal aufnehmen. Es gibt eine Grenze für die Menge an Informationen, die wir aktiv bearbeiten und über die wir gleichzeitig nachdenken können.
Ist ein Satz also zu lang, verliert ein Kind womöglich den Überblick. Bis es das letzte Wort eines Satzes entziffert hat, hat es das erste Wort schon wieder vergessen.
Ebenso kann es passieren, dass das Kind nicht weiterkommt, wenn es zu viele neue Informationen aufnehmen oder ein besonders kompliziertes Wort entziffern muss.
Übung macht den Meister
Mit zunehmender Erfahrung und Geschicklichkeit wird dein Kind schließlich in der Lage sein, kompliziertere Texte zu bewältigen. Es wird gelernt haben, viele Worte ganz automatisch zu identifizieren, wenn es sie sieht. Und bestimmte Präfixe, Suffixe und Wortwurzeln automatisch entschlüsseln. Es wird ein Gespür für Rechtschreibung und gängige Grammatik entwickeln. Und diese Verknüpfungen werden die kognitive Anstrengung des Lesens verringern und das Arbeitsgedächtnis für längere Sätze und kompliziertere Sprache freisetzen.
Wenn du mit dem Lesen anfängst – also zum ersten Mal liest oder deine ersten Lesefähigkeiten aufbaust – ist es nicht schwer, die Kapazität deines Arbeitsgedächtnisses zu sprengen. Jeder Aspekt des Lesens erfordert bewusste Aufmerksamkeit und Anstrengung. Deshalb ist es wichtig, alles so einfach wie möglich zu halten.
Der Einfluss von Bildern auf das Leseverständnis – Eine Studie
Das ist natürlich der Grund, warum die Bücher für Leseanfänger/innen einfach formuliert sind, z. B. „Sam saß auf einer Matte.“ Aber was ist mit anderen Elementen eines Buches? Was ist mit den Illustrationen? Können die Bilder in einem Buch zu einer Überlastung mit Informationen beitragen?
Das wollten Forschende herausfinden und haben deshalb ein Experiment mit 60 Schulkindern (der ersten und zweiten Klasse) durchgeführt.
Zu Beginn nahmen die Forschenden ein herkömmliches Bilderbuch, das für Leseanfänger/innen gedacht war, und veränderten es.
- Auf einigen Seiten des Buches wurden die ursprünglichen Illustrationen nicht verändert. Diese Illustrationen waren sehr detailreich und enthielten viele Einzelheiten, die für die Erzählung nicht direkt relevant waren.
- Auf anderen Seiten wurden die Bilder vereinfacht. Die Forscherinnen und Forscher entfernten überflüssige Details und ließen nur das Nötigste übrig.
Nachdem die Forscher/innen das Lesematerial vorbereitet hatten, waren sie bereit für den großen Test.
Jedes Kind las beide Varianten von Seiten laut vor. Während die Kinder lasen, zeichnete ein handlicher Eye-Tracker die Bewegungen ihrer Augen auf. So konnten die Forschenden feststellen, wie viel Aufmerksamkeit die Kinder den Illustrationen und wie viel Aufmerksamkeit sie dem Text schenkten.
Wenn die Kinder fertig gelesen hatten, wurden ihnen eine Reihe von Fragen zum Leseverständnis gestellt.
Ergebnisse der Studie
Wenn die Kinder die ursprünglichen, unveränderten Seiten lasen, wendeten sie ihren Blick häufiger vom Text ab. Außerdem schauten sie länger auf nebensächliche Details in den Bildern. Beide Tendenzen waren mit einem schlechteren Leseverständnis verbunden.
Tatsächlich war der Unterschied im Leseverständnis erheblich: Die Kinder erreichten in der visuell “ abgespeckten“ Version rund 33 % mehr Leseverständnis.
Manche Kinder profitierten dabei mehr als andere. Sie wurden durch die normalen Seiten besonders abgelenkt. Der Wechsel zu vereinfachten, übersichtlichen Bildern hatte also einen größeren Einfluss auf ihr Leseverständnis.
Was sollten wir daraus lernen?
Man sollte nicht davon ausgehen, dass eine umfangreiche Illustration immer schlecht für das Leseverstehen ist.
Tatsächlich deuten frühere Untersuchungen darauf hin, dass ältere Kinder sich von den Bildern, die den Text begleiten, nicht sonderlich beeindrucken lassen. Eine Studie mit Viertklässler/innen ergab, dass sich die Kinder vor allem auf den Text und relativ wenig auf Bilder konzentrieren.
Diese Studie zeigt jedoch, dass junge Leseanfänger leichter abzulenken sind. Und das macht Sinn, wenn man bedenkt, was wir über die vielen Aufgaben wissen, die Leseanfänger/innen erledigen müssen, um Texte zu entschlüsseln.
Leseanfänger haben mehr zu jonglieren, mehr Dinge, die sie bewusst im Auge behalten müssen. Kein Wunder, dass sie sich von ansprechenden, unterhaltsamen Bildern eher ablenken lassen.
Die Studie deckt sich auch mit vorherigen Forschungsergebnissen.
Als Forscherinnen und Forscher zum Beispiel traditionelle, gedruckte Bücher mit digitalen Büchern auf Touchscreens verglichen, stellten sie fest, dass 7-jährige Kinder ein besseres Leseverständnis zeigten, wenn sie traditionelle, gedruckte Bücher lasen.
Andere Studien weisen darauf hin, dass bestimmte Funktionen von digitalen Geschichtenbüchern (wie Spiele, „Spotlights“ und Hintergrundgeräusche) Kinder vom Lernen der Wörter abhalten können.
Wenn es um die ersten Anfänge des Lesens geht, ist also weniger meist mehr. Einfache, minimalistisch illustrierte Bücher können Kindern helfen, sich zu konzentrieren – und das Gelesene besser zu verstehen.
Bildquelle: https://unsplash.com/photos/Z9EsDtTr3G4