Die Entdeckung, dass jemand, den du liebst, sich selbst verletzt, ist beängstigend. Und auch sehr verwirrend. Als Elternteil ist es schwer zu begreifen, dass die Liebe, die du deinem Kind gibst, vielleicht nicht ausreicht, um es davon abzuhalten, sich selbst zu verletzen.
Kinder, die sich selbst verletzen
Etwa 15 % der jungen Menschen verletzen sich selbst. 34% fangen zwischen 17 und 20 Jahren damit an, obwohl es auch schon mit 12 Jahren oder sogar noch früher losgehen kann. Selbstverletzung wird vor allem mit Mädchen in Verbindung gebracht, aber auch Jungen tun es.
Selbstverletzer/innen sehen typischerweise aus wie das Kind, das in der Matheklasse neben deinem Kind sitzt. Der beliebte Teenager, der gerade einen Wettbewerb gewonnen hat, oder das Kind, das ein super Sportler/ eine super Sportlerin ist. Viele sind perfektionistisch, leistungsstark und sensibel. Viele Selbstverletzer/innen scheinen nach außen hin alles im Griff zu haben. Aber in ihrem Inneren herrscht emotionale Unruhe. Selbstverletzung wird definiert als der Zwang, sich selbst absichtlich körperliche Schmerzen zuzufügen. Fachleute bezeichnen dies auch als Selbstverstümmelung, Schneiden und nicht-suizidale Selbstverletzung.
Häufige Methoden sind exzessives Kratzen, Schorfaufreißen und Verbrennen. Viele Jugendliche wenden auch extremere Methoden an, wie Schneiden oder Knochenbrechen. Das klingt beängstigend, ich weiß. Die meisten Expert/innen sind sich jedoch einig, dass Selbstverletzung nicht immer mit Selbstmordgedanken verbunden ist. Kinder, die sich selbst verletzen, wollen nicht unbedingt sterben. Sie wollen einfach nur, dass der Schmerz aufhört.
Was sind die Ursachen für Selbstverletzungen?
Für viele Eltern ist es schwierig, sich vorzustellen, warum sich jemand absichtlich selbst verletzt. Junge Menschen sind mit einer Vielzahl von körperlichen und emotionalen Veränderungen konfrontiert, aber auch mit äußerem Druck wie schulischen und sozialen Anforderungen. Angst, Hoffnungslosigkeit und Scham sind nur einige der Emotionen, die einen dazu bringen können, sich selbst zu verletzen.
Selbstverletzung ist ein Symptom für ein größeres Problem und eine Methode, um extremen Stress und überwältigende Gefühle zu bewältigen. Ein junger Mensch, der Schwierigkeiten hat, seine negativen Gefühle auszudrücken, könnte zu außergewöhnlichen Methoden wie der Selbstverletzung greifen, um sich ein Ventil zu verschaffen. Studien zeigen, dass bei der Selbstverletzung Endorphine im Gehirn freigesetzt werden, die Spannungen abbauen und zu einem Gefühl der Ruhe führen können. Einfach ausgedrückt: Der körperliche Schmerz, der durch Selbstverletzung entsteht, lindert den unerträglichen emotionalen Schmerz. Selbstverletzungen geben deinem Kind die Illusion, dass es die Kontrolle über seine Lebensumstände hat. Als Elternteil bist du vielleicht nicht in der Lage, den Schmerz zu beenden, aber es gibt Möglichkeiten zu helfen.
Wie reagieren, wenn sich dein Kind selbst verletzt?
1. Warnzeichen wahrnehmen
Selbstverletzung ist schwer zu erkennen, weil sie meist im Verborgenen geschieht. Die Betroffenen verstecken sie, weil sie denken, dass niemand sie verstehen könnte. Zu den Anzeichen, auf die du bei deinem Kind achten solltest, gehören eine zunehmend traurige Stimmung, der Rückzug von Freunden und Aktivitäten und lange Phasen, die dein Kind alleine verbringt. Achte auch darauf, ob dein Kind bei sehr warmem Wetter Kleidung mit langen Ärmel oder Jacken trägt. Wenn du zum ersten Mal entdeckst, dass dein Kind sich verletzt, ist es normal, dass du schockiert, besorgt und sogar wütend bist. Vermeide es, dein Kind mit Fragen zu überhäufen, auf die es vielleicht keine Antwort weiß. Versichere ihm oder ihr, dass du da bist, um zu helfen. Vielleicht ist dein Kind sogar erleichtert, dass das Geheimnis endlich gelüftet ist.
2. Kommunikation über Probleme
Große Veränderungen im Leben wie Scheidung, finanzieller Druck oder ein Todesfall können die ganze Familie belasten, aber für Kinder können sie zusätzlichen Stress bedeuten. Es ist leicht, dass wir Eltern uns auf die Bewältigung des Alltags konzentrieren und dabei die emotionalen Bedürfnisse unserer Kinder aus den Augen verlieren. Auch Kinder machen sich Sorgen und leiden. Sie sind nicht immer in der Lage, ihre Gefühle richtig auszudrücken. Ermutige dein Kind, seine Gefühle auszudrücken, und hilf ihm, seine Auslöser besser zu verstehen, indem du regelmäßig nachfragst, besonders in den Tagen vor einem bevorstehenden Ereignis: „Hey, ich weiß, dass das große Finale (oder der Tanz) bevorsteht, wie fühlst du dich dabei?“
3. Bewältigungsstrategien
Meine Patientinnen und Patienten berichten oft, dass der Druck der aufgestauten Gefühle plötzlich weg ist, wenn sie sich selbst verletzen. Wenn du mit deinem Kind sprichst, ist es wichtig zu wissen, dass der Stress nur für ein paar Stunden oder ein paar Tage weg ist. Auch wenn die Symptome des Problems vorübergehend verschwinden, ist das zugrunde liegende Kernproblem nicht gelöst. Deshalb kehrt der Drang zum Ritzen zurück, sobald der Druck wieder auftaucht. Mit professioneller Hilfe kann dein Kind effektive Bewältigungsstrategien erlernen, die ihm langfristig helfen.
4. Verstehe, dass Aufhören nicht einfach ist
Manche Jugendliche hören von alleine auf, aber viele schaffen es nicht. Selbstverletzung ist eine Form der Sucht, und wenn es nicht gelingt, damit aufzuhören, kann das zu Entmutigung und Schamgefühlen führen, die den selbstzerstörerischen Kreislauf wieder in Gang bringen können. Freue dich über die Entscheidung deines Kindes, aufhören zu wollen. Als Elternteil wirst du dir verzweifelt wünschen, dass die Dinge anders laufen. Du kannst sicher sein, dass dein Kind den gleichen Wunsch hat. Der Heilungsprozess wird jedoch Zeit brauchen. Rechne mit Rückschlägen und sage deinem Kind, dass du für es da bist und dass du es trotzdem liebst.
5. Die Kunst der Ablenkung
Eltern können ein Kind nicht zum Aufhören zwingen, aber sie können dabei helfen, gesunde Auswege zu finden. Frage dein Kind, was es braucht. Muss es reden? Eine schwere schulische Belastung abbauen? Zu einer anderen (weniger stressigen) außerschulischen Aktivität wechseln? Studien zeigen, dass viele Formen von Bewegung ängstliche und depressive Gefühle verringern können. Neben körperlicher Betätigung sind auch ein lustiger Film, Malen, ein Schaumbad oder beruhigende Musik hilfreiche Ablenkungen. Außerdem kann es Wunder wirken, wenn dein Kind seine Gefühle in ein Tagebuch schreibt oder mit einem vertrauenswürdigen Freund spricht, um Stress abzubauen.
6. Finde den richtigen Spezialisten
Wenn du Anzeichen von Selbstverletzung bemerkst, wende dich sofort an einen erfahrenen Spezialisten, der auf dieses Gebiet spezialisiert ist. Wundere dich nicht, wenn es mehrere Sitzungen braucht, bis du Verbesserungen bemerkst. Wenn dein Kind bereits seit einiger Zeit einen Therapeuten oder deine Therapeutin aufsucht, die Selbstverletzung aber weitergeht, ist es wahrscheinlich an der Zeit, eine neue Person zu suchen. Du und dein Kind können einen Therapeuten mögen, aber vielleicht sind zusätzliche Interventionen nötig. Wirksame Strategien variieren je nach Fachkraft. Einige Techniken helfen deinem Kind, die Ursachen für die Selbstverletzung zu verstehen. Andere Interventionen konzentrieren sich auf Verhaltensänderungen oder darauf, die Reaktionen auf Ereignisse zu verstehen, die den Drang zur Selbstverletzung auslösen.
Wenn jemand, den du liebst, sich selbst verletzt, musst du wissen, dass du alleine es nicht ändern kannst. Du kannst einfach eine liebevolle Unterstützung sein und die Person auf Hilfe hinweisen. Lass dich nicht entmutigen und gib nicht auf! Rechne damit, dass es mehrere Monate – oder länger – dauern kann, bis dein Kind wieder gesund wird. Die gute Nachricht ist, dass viele Kinder aus diesem Zustand herauswachsen. Mit guter professioneller Betreuung kann dein Kind lernen, gesünder mit dem Schmerz umzugehen.
Bildquelle: https://www.pexels.com/photo/woman-in-black-hoodie-sitting-on-brown-wooden-chair-4100485/