Studien zu Gruppenzwang – wann und wie entsteht er?

by Lara
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Gruppenzwang und soziale Anpassung fangen schon lange vor der Pubertät an. Wenn sie vor die Wahl gestellt werden, entweder die Wahrheit zu sagen oder eine gängige Lüge zu unterstützen, knicken schon 4-jährige Kinder ein.

Du und drei andere sitzen nebeneinander und jeder von euch hat ein Exemplar desselben Buches.

Schaue auf die erste Seite. Dort siehst du eine Bärenfamilie. Auf der nächsten Seite siehst du ein Bild von nur einem Mitglied dieser Familie.

Nun sage mir, wer auf dem Einzelfoto zu sehen ist.

Ist es der Papa Bär? Mama Bär? Baby-Bär? Du hörtest die anderen behaupten, dass es Papa Bär ist. Aber du siehst ganz deutlich, dass es Baby-Bär ist. Was wirst du auf die Frage antworten?

Das hängt wohl von einer Menge Faktoren ab. Von deiner Motivation, deinem Selbstbewusstsein und dem sozialen Kontext. Spielt es wirklich eine Rolle, was du sagst? Wird deine Antwort veröffentlicht werden? Lebst du in einer Kultur, in der es wichtig ist, sich anzupassen?

Und wie sieht es mit dem Alter aus? Wir wissen, dass viele Erwachsene dazu neigen, dem Druck der Gesellschaft nachzugeben. Doch wie früh zeigt sich diese Tendenz? Wann beginnt sie?

Vielleicht denkst du an die Pubertät. Diese Vermutung wäre aber wohl etwas vorschnell. Forscherinnen und Forscher haben das Phänomen nämlich bereits bei kleinen Kindern dokumentieren können.

Eine der bahnbrechenden Studien zu diesem Thema wurde am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie durchgeführt, wo die Psychologen Daniel Haun und Michael Tomasello den gerade skizzierten „Baby-Bären“-Test mit 4-Jährigen durchführten.

Die Forscher ließen die Kinder in Vierergruppen sitzen, jedes Kind in einer eigenen Kabine, in der es die anderen Kinder hören, aber nicht sehen konnte. Den Kindern wurden Bilderbücher gegeben, von denen sie glaubten, dass diese identisch seien. Tatsächlich war aber eines der vier Bücher anders. Einige der Bilder unterschieden sich.

Der Test lief folgendermaßen ab: Die Kinder wurden gebeten, die entsprechende Seite in ihren Büchern aufzuschlagen und dann einzeln zu berichten, was sie sahen.

Insgesamt gab es 18 Versuche. Bei 12 Versuchen zeigten die Bücher alle die selben Bilder. Bei den anderen 6 Versuchen unterschieden sich die Bilder und das Kind, das das Buch mit den unterschiedlichen Bildern hatte, geriet in einen inneren Konflikt. Entweder du sagst, was du siehst, oder du schließt dich der Mehrheit an.

Insgesamt nahmen 96 Kinder teil. 24 von ihnen wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, um das sich unterscheidende Buch zu erhalten. 18 von 24 dieser Kinder haben sich mindestens einmal der (unzutreffenden) Meinung der Mehrheit angeschlossen. Zehn Kinder haben es bei den meisten Durchgängen getan.

Setzt man ein Kind mit drei anderen Kindergartenkindern zusammen, stimmt es also vielleicht der Aussage zu, dass es Papa Bär ist, obwohl es eigentlich weiß, dass es Baby Bär war.

Waren die Kinder, die ihre Antworten geändert haben, durch sozialen Druck motiviert? Oder ging es um etwas anderes? Vielleicht waren sie durch die abweichenden Antworten einfach nur verwirrt?

Um das festzustellen, führten Haun und Tomasello ein zweites Experiment durch, bei dem die Kinder die Frage manchmal heimlich beantworten durften (damit die anderen Kinder nichts von ihrer abweichenden Antwort erfuhren).

Auch in diesen Fällen änderten die Kinder gelegentlich ihre Antworten, um sich anzupassen. Allerdings nicht so häufig.

Kinder änderten ihre Antworten also am ehesten, wenn sie wussten, dass andere Leute zuhörten.

Es scheint also primär tatsächlich um Gruppenzwang zu gehen – also darum, mit dem Strom zu schwimmen.

Was denken die Kinder genau, wenn sie solche Antworten geben?

Das ist unklar. Vielleicht nutzen sie nur ihre praktischen Erfahrungen aus Versuch und Irrtum. Denn sie haben schon früher Konflikte mit anderen Kindern gehabt. Sie haben gelernt, dass sie weniger Ärger haben, wenn sie sich anpassen.

Eventuell, so vermuten Haun und Tomasello, geht es aber auch um etwas Komplexeres. Die Kinder denken darüber nach, wie andere Menschen sie wahrnehmen. Sie legen bewusst Wert auf ihr Image.

Wie auch immer der genaue Entscheidungsprozess aussieht, es gibt Beweise dafür, dass kleine Kinder versuchen, sich anzupassen. Selbst wenn das bedeutet eine eigentlich falsche Aussage zu tätigen.

Auch andere Studien bestätigen dies.

Kathleen Corriveau und ihre Kolleg/innen (2013) baten zum Beispiel 3- und 4-Jährige, ein einfaches räumliches Urteil über die Länge verschiedener Linien zu fällen.

„Siehst du diese drei Linien auf dem Bildschirm? Kannst du auf die lange Linie zeigen?“

Wieder einmal schloss sich der Großteil der Kinder der Mehrheitsmeinung an- auch wenn diese eindeutig falsch war. Und auch in diesem Versuch hing die Anpassung in erheblicher Weise von der Anwesenheit eines Publikums ab.

Wurden die Vorschulkinder gebeten, ihr Urteil unter vier Augen zu fällen – also ohne Zeugen abzustimmen -, waren sie häufiger bereit, ihre Meinung zu vertreten und die Wahrheit zu sagen.


Wenn kleine Kinder bereit sind, bei banaleren Dingen wie den Bildern von Bären und Linien zu lügen, sind sie dann auch bereit, in Bezug auf soziale und moralische Dinge zu lügen?

Das wollten Elizabeth Kim und ihre Kolleg/innen wissen und führten eine neue Versuchsreihe durch.

Insgesamt nahmen 132 Kinder im Alter von 2 bis 6 Jahren teil.

Die Kinder wurden nicht nur auf ihr Verständnis von einfachen räumlichen Unterschieden getestet („Welche Linie ist länger?“). Sie wurden auch auf ihre Reaktionen auf soziales und moralisches Verhalten getestet.

Während des Experiments wurde jedem Studienteilnehmer und jeder Studienteilnehmerin mehrere unterschiedliche Situationen präsentiert, in denen er Unrecht sah.

Dem Kind wurde ein Bild eines anderen Kindes gezeigt, das einen Verstoß begeht, und es wurde gebeten, sein Urteil darüber abzugeben.

Das Kind könnte zum Beispiel ein Bild sehen, das folgendes Szenario darstellt, und gefragt werden:

„Ist es in Ordnung oder nicht in Ordnung, dass der Junge das tut (jemanden beschimpft)?“

Anschließend, nachdem der Studienteilnehmer oder die Studienteilnehmerin vier verschiedene Übertretungen bewertet hatte, präsentierte der Erwachsene dem Kind zusätzliche Auskünfte – ein Video von zwei anderen Kindern, die auf dieselben Szenarien reagierten.

„Ich zeige dir jetzt ein paar Kinder, denen ebenfalls Bilder gezeigt werden und die gefragt werden, ob sie etwas in Ordnung finden oder nicht. Danach werde ich dich fragen, ob du das auch in Ordnung findest oder nicht. Lasst uns zuschauen.“

An dieser Stelle kam der soziale Druck ins Spiel. Die Kinder im Video-Clip sahen sich dieselben Szenarien an und stimmten allen dargestellten Verstößen zu – einschließlich Verstößen gegen soziale Normen (z. B. das Herausnehmen eines Spielzeugs während der Pausenzeit) und Verstößen gegen die Moral (z. B. das Beschimpfen eines anderen Kindes).

Nachdem jedes Vergehen besprochen wurde, folgte die entscheidende Frage des Erwachsenenversuchs. Zum Beispiel:

„Oh, schau mal. Diese beiden kleinen Kinder finden es in Ordnung, das zu tun. Was denkst du? Ist es in Ordnung oder nicht, wenn ein Kind jemanden beschimpft?“

Wie bereits erwähnt, wurden die Teilnehmer/innen der Studie auch zu räumlichen Beziehungen befragt. So konnten die Forscherinnen und Forscher vergleichen, wie sich der soziale Druck auf die Beurteilung der einzelnen Kategorien auswirkt – soziale Normen, moralische Fragen und räumliche Beziehungen.

Wie ist das Ganze ausgegangen?

In dieser Studie blieben viele Kinder ihren ursprünglichen Einschätzungen treu. Aber einige haben zumindest einmalig nachgegeben. Der Effekt der Anpassung war am stärksten bei den sozialen und moralischen Einschätzungen, nicht aber bei den Einschätzungen über räumliche Beziehungen.

Etwa 20% der Kinder gaben nach, wenn es um Verstöße gegen soziale Normen ging.

Und fast 35% der Kinder änderten ihre Einschätzung bei mindestens einer der moralischen Verstöße. Sie sagten nun, es sei in Ordnung, jemanden zu beschimpfen oder ein anderes Kind zu hänseln.

Es bedarf also nicht viel, um ihre Antworten zu ändern – nur ein paar Gleichaltrige in einem Videoclip und ein Erwachsener, der die gleiche Frage zweimal stellt.


Bedeutet das, dass wir dem Untergang geweiht sind? Dass die Menschen dazu bestimmt sind, sich dem Gruppenzwang, autoritären Grundsätzen und der Massenhysterie anzupassen?

Was uns diese Studien wirklich zeigen, ist, dass wir sehr anfällig dafür sind. Von klein auf neigen wir dazu, mit dem Strom zu schwimmen und die Anerkennung anderer zu suchen.

Das ist eine nützliche Eigenschaft – möglicherweise sogar eine notwendige – für eine Spezies, die auf die Übertragung von gesellschaftlichen Werten angewiesen ist, um zu überleben.

Doch Studien zeigen auch, dass Menschen sich dem sozialen Druck widersetzen können. Sie können Glaubenssätze in Frage stellen, sich dem Gruppendenken widersetzen und entscheiden, dass es – zumindest gelegentlich – gut ist, sich zu wehren.

In einem Experiment mit 150 Vorschulkindern fanden Forscher/innen zum Beispiel heraus, dass die Anwesenheit eines einzigen Dissidenten – jemand, der die Wahrheit im Widerspruch zur Mehrheit verkündet – ausreicht, um die Übereinstimmung der Mehrheit zu schwächen.

Und Experimente zeigen, dass ältere Kindergartenkinder – 4- bis 6-Jährige – auf die Glaubwürdigkeit von Personen achten, die Auskunft geben. Sie vertrauen eher Menschen, die eine Situation aus eigener Erfahrung kennen und die ehrlich sind.

Reicht das aus? Offensichtlich nicht. Kinder sind nicht nur anfällig für sozialen Druck. Sie sind auch Opfer der vielen Denkfehler, Irrtümer und schlechten Denkweisen, die Erwachsene heimsuchen.

Doch unsere Kinder verfügen über einige der grundlegenden Werkzeuge, die sie benötigen, um die Wahrheit zu erkennen und zu beurteilen. Wenn wir möchten, dass sie Rückgrat beweisen und sich an Tatsachen halten, auch wenn diese unbeliebt sind, müssen wir sie dazu ermutigen. Wir müssen mit ihnen darüber sprechen, wie man Informationen überprüft und über die Schwierigkeiten, die auftreten können, wenn wir gegen den Strom schwimmen.

Wir müssen ihnen beibringen, wann es angebracht und wichtig ist, etwas zu sagen und unsere Meinung zu vertreten. Sie müssen die Hilfe bekommen, die sie brauchen, um ihren Standpunkt zu vertreten. Wir können gute Vorbilder sein.

Und wir können diese Dinge in dem Wissen tun, dass wir eine vielschichtige Veranlagung geerbt haben. Wir können nachahmen und uns einfügen. Zudem können wir aber auch diskutieren und hinterfragen. Wir benötigen beide Verhaltensweisen, um eine anpassungsfähige, fortschrittliche und demokratische Gesellschaft zu schaffen.

Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/freude-spiel-spass-kinder-8813584/

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