Beim Versuch, die Emotionen anderer Menschen zu erkennen, konzentriert man sich nicht ausschließlich auf die Mimik. Vielmehr stützt man sich auf eine Vielzahl von Informationen, wie den Tonfall, die Körpersprache und inhaltliche Andeutungen.
Dennoch sind Gesichtsausdrücke von entscheidender Bedeutung. Und die Fähigkeit, sie zu entschlüsseln? Sie steht mit sozialen, schulischen und emotionalen Leistungen in Verbindung.
Kinder haben Vorteile, wenn sie Mimik deuten können
Kinder, die besser Mimik erfassen, sind zum Beispiel in der Schule beliebter. Sie schneiden in der Regel auch in der Schule besser ab. Zudem deuten Experimente darauf hin, dass Menschen, die ängstliche Gesichtsausdrücke eher erkennen, freundlicher und großzügiger sind.
Andererseits haben Kinder, denen es schwerer fällt, Emotionen in Gesichtern zu lesen, eher Probleme mit Gleichaltrigen und Lernprobleme. Kindergartenkinder, die für ihr Alter schlecht Gesichtsausdrücke identifizieren, haben ein höheres Risiko für externalisierende Verhaltensprobleme und neigen eher zu deutlichen Aggressionen.
Und wenn dein Kind sehr schüchtern ist? Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass eine schlechte Fähigkeit, Emotionen zu erkennen, die Situation erschweren kann. In einer Studie zeigte sich, dass schüchterne Kindergartenkinder mit schlechteren Fähigkeiten, Gesichtsausdrücke zu erkennen, häufiger Angst vor Ablehnung durch Gleichaltrige haben.
Was beeinflusst die Fähigkeit eines Kindes, Gesichtsausdrücke zu erkennen?
Das Alter spielt eine wichtige Rolle
Auf der ganzen Welt, von Kanada über die Niederlande und Italien bis Japan, haben Forscher/innen bestätigt, dass Kinder mit zunehmendem Alter besser in der Lage sind, Gesichtsausdrücke zu erkennen.
So wissen wir zum Beispiel, dass Babys auf unsere Mimik achten und schon früh den Unterschied zwischen einem fröhlichen Lächeln und einem wütenden Gesichtsausdruck erkennen können. Zudem wissen wir, dass
- Kleinkinder mitfühlend auf Menschen reagieren, die verzweifelt zu sein scheinen;
- 30 Monate alte Kinder Emojis, die grundlegende Emotionen darstellen, richtig identifizieren können und
- Dreijährige glückliche und wütende Gesichter in etwa 80 % der Fälle zuordnen können – vorausgesetzt, die Gesichtsausdrücke sind sehr ausgeprägt.
Das bedeutet jedoch nicht, dass kleine Kinder über ausgefeilte Fähigkeiten verfügen, um alle Gefühle zu entschlüsseln, die auf einem echten, lebenden Gesicht dargestellt werden. Vielmehr scheint sich die Fähigkeit, Gesichtsausdrücke zu erkennen, im Laufe der Kindheit und Jugend zu entwickeln, und einige Emotionen werden erst nach einiger Zeit erkannt.
Nimm zum Beispiel zwei der wichtigsten: Freude und Wut. In Experimenten haben Forscherinnen und Forscher herausgefunden, dass fünf- bis sechsjährige Kinder sowohl glückliche als auch wütende Gesichter mit einer sehr hohen Genauigkeit erkennen.
Studien zeigen aber auch, dass das Erkennen von traurigen Gesichtern Jahre länger dauert: Kinder im Alter von zehn Jahren interpretieren traurige Gesichtsausdrücke fälschlicherweise als ängstliche Gesichter.
Und während Kinder im Alter von elf Jahren in der Regel die Fähigkeiten eines Erwachsenen für die Erkennung aller drei Emotionen (Freude, Wut und Traurigkeit) erreichen, gilt dies möglicherweise nur für sehr intensive Gesichtsausdrücke. Wenn Menschen ihre Gefühle mit einem subtileren Gesichtsausdruck zeigen, können Kinder dies gegebenenfalls nicht richtig deuten.
Darüber hinaus sind manche Emotionen selbst bei starker Ausprägung schwer zu erkennen. In einer Studie fanden Forscher/innen heraus, dass Kinder im Jugendalter Probleme damit haben, Ekel oder Angst zu unterscheiden. Im Alter von 16 Jahren waren Kinder in der Lage, diese Emotionen mit einer Genauigkeit von etwa 80 Prozent zu erkennen.
Was ist mit autistischen Kindern? Ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder mit Autismus Gesichter richtig deuten, geringer?
Es gibt einige Hinweise, die diese Annahme unterstützen. In einer aktuellen Studie haben Forscher die Fähigkeiten von 98 Kindern mit Autismus getestet und sie mit 60 gleichaltrigen Kindern desselben Geschlechts einer Kontrollgruppe verglichen.
Die Kinder mit Autismus brauchten etwas länger, um Gesichtsausdrücke zu erkennen, und sie waren auch etwas ungenauer beim Erkennen von Angst. Der größte Unterschied zwischen den Gruppen betraf jedoch die Wut bei niedriger Intensität. Kinder mit Autismus erkannten nur in 41 % der Fälle leichte Wut (im Vergleich zu 82 % der Kinder in der Kontrollgruppe).
Können Mädchen Gesichtsausdrücke besser lesen als Jungen?
Auch hierfür gibt es einige Anhaltspunkte, doch scheinen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern eher gering zu sein. In einer Studie, in der 478 Kinder im Alter von 6 bis 16 Jahren getestet wurden, fanden die Forscher zum Beispiel heraus, dass Mädchen Glück, Überraschung, Ekel und Wut etwas genauer erkannten. Bei Angst und Traurigkeit wurden keine Geschlechtsunterschiede festgestellt.
Wie beeinflusst Kultur die Fähigkeit eines Kindes, Gesichtsausdrücke zu deuten?
Entgegen einer weit verbreiteten Theorie wird nicht überall der gleiche Gesichtsausdruck erkannt, nicht einmal bei grundlegenden Emotionen wie Freude und Angst.
In Studien, die in Papua-Neuguinea und Mosambik durchgeführt wurden, zeigten Forscherinnen und Forscher den Menschen Bilder, die verschiedene Gesichtsausdrücke darstellten. Die Bilder stammten aus einer offiziellen Sammlung, die von Psychologen verwendet wird, um angeblich universelle Gesichtsausdrücke darzustellen, doch die Menschen an diesen Orten interpretierten die Ausdrücke nicht immer auf die erwartete Weise. Es ist also ziemlich eindeutig. Wenn Kinder heranwachsen, lernen sie kulturspezifische Interpretationen von Gesichtsausdrücken.
Was können wir tun, um Kindern beim Erkennen von Gesichtsausdrücken zu helfen?
Studien deuten an, dass Eltern einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der Wahrnehmung von Emotionen bei kleinen Kindern haben können. Nachfolgend findest du einige evidenzbasierte Tipps.
1. Sei ein einfühlsamer Elternteil – eine Bezugsperson, die Kinder in tiefe Gespräche über Gefühle verwickelt.
Studien zeigen, dass Kinder bessere Fähigkeiten im „Gedankenlesen“ entwickeln, wenn wir mit ihnen ausführlich und einfühlsam über ihre Gedanken und Gefühle sprechen. Vor allem entwickeln Kinder bessere Fähigkeiten zum Lesen von Gesichtsausdrücken, wenn ihre Eltern ihnen helfen, die richtigen Worte für die Gefühle zu finden, die sie beobachten. Eltern können auch helfen, indem sie über die Ursachen und Folgen bestimmter Gefühle sprechen.
2. Fordere Kinder auf, die Gesamtsituation und den jeweiligen Kontext zu berücksichtigen und diese Informationen zu nutzen, um den Gesichtsausdruck zu deuten.
Wir sollten nicht erwarten, dass Kinder – besonders kleine Kinder – sich alleine auf das Verstehen von Gesichtsausdrücken verlassen. Kleine Kinder können ihr Verständnis für eine Situation nutzen, um Gesichtsausdrücke besser einschätzen zu können. Wenn sie beispielsweise sehen, wie jemandem sein Eis herunterfällt, können sie sich ausmalen, wie sie sich fühlen würden, wenn ihnen das passiert wäre.
3. Sprich mit den Kindern nicht nur über Gesichtsausdrücke, sondern auch über andere Formen der Körpersprache.
Kinder reagieren auf viel mehr als nur die Mimik einer Person. Sie nehmen auch den Tonfall, die Körperhaltung und Gesten wahr. Egal, ob ihr gemeinsam eine Geschichte lest oder jemandem im wirklichen Leben zuseht, helft den Kindern, Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Arten von nonverbalen Signalen herzustellen.
4. Als weitere Übung kannst du versuchen, Spiele zur Identifizierung von Gefühlen zu spielen.
Forscher/innen haben Trainingsprogramme entwickelt, mit denen Kinder üben können, Emotionen, die durch Gesichtsausdrücke dargestellt werden, zuzuordnen.
In einer Studie gaben Forscher/innen normal entwickelten Grundschüler/innen beispielsweise ein Training zur Erkennung und Inszenierung von Gesichtsausdrücken. Nach nur sechs jeweils 30-minütigen Sitzungen verbesserten die Kinder ihre Fähigkeit, Emotionen zu erkennen, im Vergleich zu den Kindern der Kontrollgruppe.
Lassen sich diese Prinzipien auch zu Hause anwenden? Eine Möglichkeit ist, eine Sammlung von Fotos zusammenzustellen und daraus „Gefühlskarten“ zu basteln.
Spiele zur Identifizierung von Gefühlen
Gesichter nachahmen und Emotionen raten
Die Nachahmung von Gesichtern ist nicht nur eine schauspielerische Übung. Studien belegen, dass sie uns auch hilft, Gefühle zu erkennen und Mitgefühl zu zeigen. Probiere also Folgendes aus: Mische die Karten und lege sie verdeckt vor dich hin. Der erste Spieler wählt eine Karte aus, hält sie geheim und ahmt dann den Gesichtsausdruck auf der Karte nach. Die anderen Spieler/innen müssen nun die richtige Emotion erraten.
Gesichter Situationen zuordnen
Für dieses Spiel brauchst du einen weiteren Satz Karten, auf denen jeweils eine emotionsgeladene Situation dargestellt ist. Dann versuchen die Spieler/innen, jede Karte mit einem Gesichtsausdruck der passenden Situation zuzuweisen.
Die Bilder für deine Situationskarten können aus verschiedenen Quellen stammen. Du kannst deine eigenen Bilder malen oder Bilder aus Zeitschriften ausschneiden. Manche Karten können mehrere Emotionen hervorrufen.
Kreative Szenarien: Wieso dieses Gesicht?
Bei diesem einfachen Spiel ziehen die Spieler/innen abwechselnd eine Karte aus dem Stapel. Und sie erfinden eine Ursache für den abgebildeten Gesichtsausdruck. Wenn ein Spieler zum Beispiel eine Karte mit einer überraschten Frau zieht, könntest du sagen: „Sie hat gerade einen Dinosaurier in ihrer Badewanne gefunden.“
Gemeinsames, spontanes Erzählen von Geschichten: Ein Spiel, das von einem Verfahren der Kinderpsychologie inspiriert wurde
Dies ist ein Instrument, mit dem Psychologen kleine Kinder dazu bringen, bestimmte Themen und Konzepte zu diskutieren und sich vorzustellen – wie z. B. Trennungen von geliebten Menschen, Konflikte mit Gleichaltrigen und moralische Zwickmühlen. Der Psychologe stellt eine theoretische Situation vor und ermutigt das Kind, die Details des nächsten Schrittes zu erörtern.
In diesem Gemeinschaftsspiel können die Spieler/innen gemeinsam über das grundlegende Szenario entscheiden. Es kann fantasievoll oder skurril sein, jedoch sollten die Charaktere realistische Gefühle zeigen. Dann entwickeln die Spieler/innen gemeinsam eine Geschichte, wobei sie sich abwechseln und auf den Ideen der anderen aufbauen.
Zu Beginn wählt der erste Spieler eine Gefühlskarte aus und beginnt mit der Erzählung. Er kann die Geschichte in jede beliebige Richtung lenken, aber er muss die auf der Karte abgebildete Emotion einbeziehen – d.h. die Handlung muss die entsprechende Emotion darstellen. Der nächste Spieler wählt eine Karte aus und setzt die Geschichte fort usw. Die Spieler/innen wechseln sich so lange ab, bis sie alle Karten aufgebraucht haben oder zu einem befriedigenden Ende kamen.
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