Schädlicher Stress erhöht das Risiko eines Kindes, emotionale, verhaltensbedingte und auch kognitive Probleme zu entwickeln. Er kann auch schwere Krankheiten auslösen. Wie das? Neueste Forschungen zeigen, wie schwerer, chronischer Stress „unter die Haut“ geht – Hormone durcheinander bringt, Erbanlagen aktiviert und deaktiviert und das Gehirn eines Kindes verändert.
Du erlebst einen Stressfaktor, und dein Körper reagiert darauf. Du spürst einen Adrenalinschub, der deine Herzfrequenz und deinen Blutdruck erhöht. Der Kortisolspiegel steigt an und löst einen Anstieg der Glukose aus, um deine Muskeln anzutreiben. Die Neurotransmitter versetzen dich in einen Modus, der schnelle, automatische Entscheidungen begünstigt. Du bist hochkonzentriert auf Reize um dich herum und bereit, zu kämpfen, zu fliehen oder auf ganz andere Weise mit der Situation umzugehen.
Wenn dich ein Dinosaurier aufgeschreckt hat, empfindest du all diese körperlichen Reaktionen vielleicht als Angst. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Stressreaktion nützlich ist. Sie erhöht deine Fähigkeit zu entkommen. Und was ist, wenn der Stressfaktor etwas ist, das dir Spaß macht? Vielleicht spielst du ein rasantes Videospiel, fährst Achterbahn oder fährst mit deinem Fahrrad einen Hügel hinunter. Vielleicht freust du dich darauf, vor einem Publikum aufzutreten oder an einem Sportwettkampf teilzunehmen. Du könntest die Stressituation als angenehm aufregend oder belebend empfinden.
An sich ist an der Reaktion auf Stress nichts Schlechtes. Dennoch wissen wir, dass Stress schädlich sein kann. In jungen Jahren kann er sogar den Verlauf der Entwicklung verändern.
Wo verläuft also die Grenze zwischen anpassungsfähigen und unangepassten Reaktionen auf Stress? Wann wird Stress schädlich und was hat das für eine langfristige Auswirkung auf die Gesundheit und das Wohlbefinden eines Kindes?
Wann ist Stress schädlich?
Wie bei den meisten Dingen im Leben ist die Reaktion auf Stress kostspielig und der Körper zahlt dafür, indem er Energie von den normalen biologischen Funktionen abzieht. Zugleich können die direkten Auswirkungen von Stresshormonen – wie ein erhöhter Blutdruck und ein erhöhter Blutzuckerspiegel – Schaden anrichten, wenn dies über längere Zeit anhält. Außerdem können sie die normale Immunfunktion stören und zu chronischen Entzündungen führen.
Während eine kurze Stresssituation vielleicht keine negativen Folgen hat, sieht es anders aus, wenn du dich wochen-, monatelang oder noch länger jeden Tag unter Stress setzt. Dein Körper ist dann einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt, und du erlebst eine schädliche Reaktion auf den Stress.
Es handelt sich um eine anhaltende Aktivierung der Stressreaktionssysteme, die die Entwicklung der Struktur des Gehirns und anderer Organsysteme stören und das Risiko für stressbedingte Krankheiten und kognitive Beeinträchtigungen bis ins Erwachsenenalter erhöhen kann.
Aber woher wissen wir von diesen Störungen in der Entwicklung und wie sehen sie aus? Werfen wir einen genaueren Blick auf die Beweise.
Welche Konsequenzen hat schädlicher Stress für Kinder
Es liegt nahe, dass schädlicher Stress dauerhafte Folgeschäden verursachen kann. Chronisch hoher Blutdruck, erhöhter Blutzuckerspiegel, anhaltende Entzündungen – das ist das Muster für die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Stoffwechselstörungen wie Diabetes. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Stress in der frühen Kindheit besondere Risiken birgt. Das Gehirn befindet sich in der Entwicklung und ist daher anfälliger für schlechte Umstände.
Natürlich ist es schwierig, einen Zusammenhang nachzuweisen. Es ist zum Beispiel klar, dass Kinder, die in Armut aufwachsen, allen möglichen Stressfaktoren ausgesetzt sind und dass diese Kinder ein höheres Risiko für schlechte Schulleistungen haben. Aber wie viel davon ist auf schädlichen Stress zurückzuführen, und wie viel auf andere Faktoren? Es kann sein, dass Kinder schlechtere Ergebnisse erzielen, weil sie unterernährt sind oder weil sie eine schlechtere ärztliche Versorgung erhalten.
Am besten lässt sich der Zusammenhang durch Experimente feststellen. Erziehe eine Gruppe von Kindern unter ähnlichen Bedingungen, mit einem Unterschied: Einige werden nach dem Zufallsprinzip schädlichem Stress ausgesetzt. Doch wir können Kinder nicht auf diese Weise behandeln. Die Forscher/innen ziehen daher andere Beweise heran: Experimente an Tieren und Studien, die das Verhalten von Kindern untersuchen, die in ihrem Leben schon früh Stress ausgesetzt waren.
Was haben die Forschenden herausgefunden? Wie zu erwarten, erhöht frühkindlicher Stress die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind Symptome von Angst und Depression entwickelt. Außerdem korreliert er mit Schlafproblemen im späteren Leben und der Tendenz, insgesamt weniger Stunden zu schlafen. Darüber hinaus sind einige der stärksten schlechten Kindheitserfahrungen – Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt, schwerkranke Familienmitglieder, Tod eines Elternteils – wichtige Risikofaktoren für Krankheiten, Drogenkonsum und eine verkürzte Lebenserwartung.
Doch das ist noch nicht alles. In den letzten zehn Jahren haben Forscher/innen mehr über die physiologischen Veränderungen gelernt, die mit schädlichem, chronischem Stress einhergehen. Diese helfen uns zu verstehen, wie Stress „unter die Haut“ geht und dauerhafte Entwicklungsprobleme verursacht.
Wie verändert sich das Stressreaktionssystem des Körpers durch schädlichen Stress?
Stell dir ein Kind vor, das täglich und wochenlang unter schädlichem Stress leidet – du könntest annehmen, dass das Kind in Stresshormonen schwimmt. In vielen Fällen würdest du damit richtig liegen. Aber das Ganze ist viel komplexer.
Zum Beispiel wurde es in Experimenten mit Tieren und in Beobachtungsstudien an Menschen bestätigt: Junge Lebewesen, die chronischem Stress ausgesetzt sind, neigen zu chronisch hohen Cortisolspiegeln. Sie können auch besonders empfindlich auf bestimmte Stressfaktoren reagieren und Angstsymptome entwickeln.
Dieses Muster kann sich über Jahre hinweg fortsetzen. Aber nicht immer.
In einigen Fällen passt sich der Körper schließlich an eine stressreiche Umgebung an. Anstatt Stresshormone auszuschütten, zieht er sich zurück. Er drosselt die Cortisolproduktion und reagiert weniger auf alltägliche Stressfaktoren, so dass der Mensch nicht mehr den normalen Cortisolanstieg erlebt, der zu erwarten ist, wenn etwas Alarmierendes oder Aufregendes passiert.
Das nennt man eine „abgestumpfte“ Stressreaktion. Schützt dies das belastete Kind vor der Entwicklung bestimmter stressbedingter Krankheiten? Vielleicht. Aber es bringt auch eine Reihe von Problemen mit sich. Kinder mit einem niedrigeren Cortisolspiegel und einer abgestumpften Stressreaktion haben ein höheres Risiko, eine Reihe von externalisierenden Verhaltensproblemen zu entwickeln, wie z. B. eine schlechte Emotionskontrolle, Impulsivität, Aggression und antisoziale Verhaltensstörungen.
Daher kann chronischer, toxischer Stress bei Kindern zu zwei verschiedenen Arten von Störungen des Stressreaktionssystems führen, und beide werden mit ungünstigen Folgen in Verbindung gebracht.
Verkürzte Telomere
Was ist ein Telomer? Telomere sind Moleküle, die Schutzkappen oder Puffer an den Enden unserer Chromosomen bilden und unsere DNA vor Schäden schützen. Je länger die Telomere sind, desto besser können sie unsere DNS vor dem Abbau schützen. Doch leider neigen die Telomere selbst dazu, sich abzunutzen. Wenn wir älter werden, werden die Telomere immer kürzer.
Wenn sich die Telomere schneller verkürzen, zeigen sich die physiologischen Anzeichen des Alterns früher im Leben. Daher ist es sehr verstörend zu erfahren, dass chronisch psychisch gestresste Kinder tendenziell kürzere Telomere haben. Insbesondere zeigen Kinder Anzeichen einer beschleunigten Erosion der Telomere, wenn sie große Stressfaktoren wie Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt in der Familie, Mobbing, Nachbarschaftsstreitigkeiten, den Verlust eines Elternteils oder mütterliche Depressionen erlebt haben. Auch der Zeitpunkt des schädlichen Stresses scheint wichtig zu sein. Je jünger das Kind ist, desto stärker ist der Effekt.
Weitere Auswirkungen auf die DNA
Unsere DNA ist eng gewickelt, damit sie in den Zellkern passt. Außerdem ist sie teilweise mit kleinen chemischen Gruppen verbunden, den Methylgruppen. Diese Methylgruppen bewirken, dass Gene in der Nähe zum Stillstand gebracht werden und manchmal ist das auch gut so, denn es ist besser, wenn ein Gen „ausgeschaltet“ bleibt.
Natürlich gibt es viele Gene, die wir für eine gute Gesundheit „an“ haben wollen. Aber manchmal werden diese Gene „methyliert“, was zu Problemen führt – einschließlich unangepasster Stressreaktionen, Krankheiten, strukturellen Veränderungen im Gehirn und psychischen Erkrankungen (wie Depressionen).
Es hat sich gezeigt, dass Stress in der Kindheit Veränderungen in beide Richtungen bewirken kann – das Ausschalten „guter“ Gene und das Einschalten „schlechter“ Gene. Diese sogenannten epigenetischen Veränderungen wurden in kontrollierten Experimenten an Tieren nachgewiesen. Studien an Menschen haben starke Zusammenhänge zwischen frühem Stress und epigenetischen Veränderungen nachgewiesen.
Ein Großteil dieser Forschungen konzentriert sich auf Fälle, in denen Kinder Opfer von Missbrauch, Vernachlässigung oder Mobbing durch Bezugspersonen waren. Studien haben aber auch über epigenetische Veränderungen nach anderen Stresssituationen berichtet, z. B. nach dem Erwachsenwerden in einer Gegend mit hoher Kriminalität, nach dem Zusammenleben mit einem psychisch oder körperlich kranken Elternteil, nach der Scheidung der Eltern oder nach dem Tod eines Elternteils.
Auswirkungen auf das Gehirn
Auch hier gibt es übereinstimmende Erkenntnisse aus Experimenten und Vergleichsstudien. Stress im frühen Leben wirkt sich auf das Gehirn aus.
Betrachte zum Beispiel Kinder, die in schweren Stresssituationen aufgewachsen sind, wie Misshandlung, Armut oder Heimunterbringung. Wenn diese Kinder aufgefordert werden, auf emotional aufgeladene Signale (wie ängstliche Gesichter) zu achten, zeigen sie auffällige Muster der Gehirnaktivität. Die Amygdala – eine Hirnregion, die für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist – ist besonders aktiv.
Es gibt auch Hinweise darauf, dass schädlicher Stress die Art und Weise beeinflusst, wie das Gehirn Informationen zu Belohnungen verarbeitet und die Auswirkungen hängen – teilweise – vom Alter des Kindes ab. Wenn Kinder schon sehr früh im Leben schädlichen Stress erleben, kann dies dazu führen, dass sie Risiken vermeiden. Im Gegensatz dazu ist schädlicher Stress in der Pubertät mit Risikobereitschaft verbunden.
Außerdem gibt es erstaunliche – und beunruhigende – Hinweise darauf, dass schädlicher Stress die Struktur des kindlichen Gehirns verändert.
Persönliche und soziale Stressfaktoren in der frühen Kindheit werden mit einer Verringerung des Volumens der grauen Substanz im präfrontalen Kortex, der Amygdala und anderen subkortikalen Regionen in Verbindung gebracht.
Darüber hinaus haben zahlreiche Studien über Verbindungen zwischen frühkindlichem Stress und einem geringeren Wachstum des Hippocampus berichtet, einer Gehirnregion, die mit Lernen und Gedächtnis in Verbindung gebracht wird. Kinder mit einem geringeren Hippocampus-Volumen haben ein höheres Risiko für die Entwicklung kognitiver Defizite und psychischen Erkrankungen.
All das ist sehr beunruhigend. Wird das Leben von Kindern durch frühkindlichen Stress unveränderbar beschädigt?
Kann man sich von den Folgen schädlichen Stresses erholen?
Es kann sich überwältigend anfühlen, vor allem wenn man bedenkt, wie viele Kinder ernsthaften Missständen ausgesetzt sind. In einer kürzlich durchgeführten Studie unter mehr als 200.000 Erwachsenen in den Vereinigten Staaten, fragten die Forschenden, wie viele Menschen in ihrer Kindheit eine oder mehrere der folgenden Widrigkeiten erlebt hatten:
- körperlicher, emotionaler oder sexueller Missbrauch;
- psychische Erkrankung in der Hausgemeinschaft;
- Drogenkonsum in der Hausgemeinschaft;
- häusliche Gewalt;
- ein inhaftiertes Haushaltsmitglied; und
- Trennung oder Scheidung der Eltern.
Ungefähr 58 % der Kinder hatten mindestens eine dieser negativen Erfahrungen gemacht. Mehr als 21 % hatten drei oder mehr davon erlebt. Das bedeutet, dass ein großer Teil der Bevölkerung ein erhöhtes Risiko für die physiologischen, psychologischen und kognitiven Probleme hat, die wir hier besprochen haben. Selbst wenn deine eigenen Kinder nicht betroffen sind, sind es viele ihrer Altersgenossen.
Das sollte uns dazu bewegen, die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zu ändern, die zu ungünstigen Kindheitserfahrungen führen. Das würde nicht nur das Leid lindern, sondern auch einen großen wirtschaftlichen Vorteil für die Gesellschaft bedeuten. Nach Schätzungen von Experten kostet allein in den Vereinigten Staaten die Belastung durch Kriminalität und Gewalt in der Kindheit die Gesellschaft mehr als 450 Milliarden Dollar pro Jahr.
Aber selbst wenn wir die Armuts- und Kriminalitätsrate der Kinder ausgesetzt sind senken würden, gäbe es immer noch Stressituationen und Kinder würden immer noch unsere Hilfe brauchen.
Und genau das ist wichtig zu wissen: Erwachsene können eine Menge tun, um Kinder vor den Auswirkungen von Stress zu schützen. Sie können auch viel tun, um Kindern zu helfen, sich von belastenden Erfahrungen zu erholen.
Betreuer/innen können einen großen Einfluss auf die Fähigkeiten von Kindern haben, mit Stress umzugehen, insbesondere in schweren Zeiten. Wenn Eltern warmherzig und unterstützend sind, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass gefährdete Kinder unter den medizinischen Problemen und der veränderten Gehirnentwicklung leiden, die mit Stress verbunden sind.
Wie ich bereits an anderer Stelle erwähnt habe, gibt es außerdem Hinweise darauf, dass Eltern den Oxytocinspiegel ihrer Kinder erhöhen (ein Hormon, das Gefühle von Nähe und Ruhe fördert) und die schädlichen Änderungen der Genetik, die mit schädlichem Stress einhergehen, rückgängig machen können. Es ist auch eindeutig, dass Kinder von gesunden sozialen Bindungen profitieren. Wenn wir sichere Beziehungen zu unseren Kindern aufbauen, helfen wir ihnen, die Fähigkeit zur selbstständigen Beruhigung zu entwickeln.
Auch wenn schädlicher Stress verheerende Folgen hat, können wir Kindern helfen, sich zu erholen. Dazu müssen wir auf ihre Bedürfnisse eingehen und eine Umgebung schaffen, in der sie sich sicher und unterstützt fühlen.
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