Kinder nehmen Klischees über Herkunft, Geschlecht und Wohlstand wahr. Die Wahrnehmung dieser Stereotypen lenkt sie ab – so sehr, dass sie das Lernen und sogar schulische Leistungen beeinträchtigen können. Doch wir können Kindern helfen, diese Herausforderung zu überwinden. Im Folgenden erfährst du, was alle Eltern wissen sollten.

Die alltägliche Realität der Bedrohung durch Klischees

Überall in der Gesellschaft werden Menschen in Kategorien eingeordnet. Diesen Vorgang beobachten Kinder sehr aufmerksam.

Sie nehmen nicht nur die Kategorien bezüglich Geschlecht, Wohlstand und ethnischer Zugehörigkeit wahr, sondern auch die Klischees, die mit diesen Kategorien einhergehen. Das fängt schon früh an.

  • Schon Kleinkinder nehmen kulturelle Normen über das Geschlecht auf und wenden sie auf Funktionen, Beschäftigungen und Spielzeug an.
  • Vierjährige erwarten, dass reiche Klassenkameraden im Unterricht besser sind.
  • Grundschulkinder kennen negative Stereotypen bezüglich des ethnischen Hintergrunds. Sie neigen auch dazu zu glauben, dass Mitglieder von Minderheiten moralisch minderwertiger sind.

Und Kinder sind selbst Vorurteilen ausgesetzt. Experimente zeigen, dass Kinder mit afrikanischen Wurzeln eher als wütend wahrgenommen werden – selbst wenn ihr Gesichtsausdruck eigentlich neutral ist.

Wie hoch ist der Preis, für diese Einstellungen und Vorurteile?

Es gibt die offensichtlichen Folgen: Belästigung, Mobbing, Hassverbrechen. Soziale Diskriminierung und Ungerechtigkeit.

Doch es gibt auch einen viel unauffälligeren Preis – die Verluste, die wir erleiden, wenn wir selbstkritisch gegenüber unseren eigenen Vorurteilen werden.

Viele Menschen beobachten uns und erwarten eine Bestätigung ihrer Vorurteile. Kann man sie vom Gegenteil überzeugen?

Es ist nicht so einfach, andere vom Gegenteil zu überzeugen, da unsere Denkleistung abgelenkt wird. Statt uns voll und ganz auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren, fühlen wir uns veranlasst, die Bedrohung zu überwachen und unsere Gefühle unter Kontrolle zu halten. Manchmal fühlen wir uns sogar hilflos oder sind kurz davor, aufzugeben.

Das Problem wurde in den 1990er Jahren von den Psychologen Claude Steele und Joshua Aronson (1995) erstmals in die Psychologie einbezogen. Sie nannten das Phänomen “ Bedrohung durch Stereotype“, und jahrzehntelange Forschung hat ihre ursprüngliche Vorhersage bestätigt:

Menschen neigen dazu, bei Tests schlechter abzuschneiden, wenn sie durch negative Stereotypen bezüglich ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihres Geschlechts verunsichert werden.

Das hat sich in einer Reihe von Fächern gezeigt, insbesondere in Mathematik. Es hat sich sogar bei Tests zur fluiden Intelligenz gezeigt.

In einer US-amerikanischen Studie legten Forscher/innen beispielsweise „schwarzen“ und „weißen“ Studierenden einen hoch angesehenen Test zur Messung der fluiden, nonverbalen Intelligenz vor – Raven’s Advanced Progressive Matrices (APM).

Die Schüler absolvierten die APM unter drei verschiedenen Bedingungen.

  • In einer Bedingung erhielten die Schüler/innen die Standardanweisungen für die Teilnahme am Test.
  • In einer anderen Bedingung wurde den Schüler/innen zusätzlich gesagt, dass der APM ein IQ-Test ist.
  • In einer dritten Bedingung wurde der APM überhaupt nicht als Test präsentiert. Den Schüler/innen wurde gesagt, dass es sich bei dem APM um eine Reihe von Rätseln handelt und dass die Forscher/innen ihre Meinung dazu hören wollten.

In Übereinstimmung mit der Theorie der stereotypen Bedrohung schnitten die „schwarzen“ Schüler/innen schlechter ab als die „weißen“ Schüler/innen, wenn der APM als Test präsentiert wurde (Fall 1 und 2).

Wurde die APM nicht als Test präsentiert, schnitten „schwarze“ Schüler/innen genauso gut ab wie „weiße“ Schüler/innen.

Ist das nur ein Problem für junge Erwachsene? Also ältere, kultiviertere Menschen, die bereits jahrelang Stereotypen in Aktion beobachten konnten?

Offenbar nicht, denn der gleiche Zusammenhang wurde bereits bei kleinen Kindern festgestellt.

Michel Désert und seine Kolleg/innen haben französischen Kindern eine Version der Raven’s Matrices vorgelegt.

Die Kinder waren zwischen 6 und 9 Jahre alt, und ihre Leistung hing nicht von den Anweisungen ab, die sie erhielten – auch nicht, wenn sie aus wohlhabenden Familien kamen.

Anders sah es bei Kindern mit niedrigem sozioökonomischem Status aus.

Diese Kinder schnitten bei den Raven’s Matrices schlechter ab, wenn man ihnen sagte, es handele sich um einen Test ihrer Intelligenz.

Die Bedrohung durch Stereotype schadet also nicht nur Erwachsenen.  Sie ist auch kein spezieller Feind einer bestimmten Gruppe. Im Laufe der Jahre haben Experimente gezeigt, dass die Gefahr ein breites Spektrum von Personen betrifft, darunter

  • Jungen in der Grundschule, die glauben, dass Mädchen akademisch überlegen sind;
  • kleine Mädchen, die an das Klischee „Mädchen sind schlecht in Mathematik“ glauben;
  • übergewichtige Kinder, die von dem Stereotyp „fettleibige Menschen sind weniger klug“ betroffen sind;
  • ältere Menschen bei kognitiven und Gedächtnisaufgaben;
  • Immigranten bei Tests zu sprachlichen Leistungen

Wie Stereotype das Lernen beeinträchtigen und Kinder von lohnenden Berufen abhalten können

Die Auswirkungen auf das Testverhalten sind schlimm genug. Doch was ist, wenn Stereotype mehr als nur die Testergebnisse beeinträchtigen? Was ist, wenn sie auch die Fähigkeit eines Schülers oder einer Schülerin beeinträchtigen, überhaupt zu lernen?

Es gibt gute Gründe dafür, dass das stimmt.

Betrachten wir zunächst das Arbeitsgedächtnis – die Fähigkeit deines Gehirns, mehrere Informationen gleichzeitig zu verarbeiten und sich dabei zu konzentrieren.

Wir brauchen ein gutes Arbeitsgedächtnis, um uns zu konzentrieren, Anweisungen zu befolgen und Pläne umzusetzen. Doch das Arbeitsgedächtnis ist eine delikate Sache, die leicht aus dem Gleichgewicht gerät, wenn wir uns bedroht fühlen.

In Experimenten wurde festgestellt, dass die Leistung des Arbeitsgedächtnisses bei Menschen, die an negative Stereotypen dachten, sofort abnahm.

Forscherinnen und Forscher vermuten, dass das daran liegt, dass sie wertvolle Ressourcen des Arbeitsgedächtnisses abzweigen, um ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten, und damit ihre Fähigkeit, andere Informationen zu verarbeiten, verringern.

Zweitens sollte man sich überlegen, wie sich Stereotype auf die Motivation der Schüler/innen auswirken können.

Menschen, die sich von negativen Stereotypen betroffen fühlen, neigen eher dazu, die Gültigkeit oder Fairness von Tests abzulehnen. Wer geht unter diesen Umständen schon gerne zur Schule?

Und selbst positive Stereotype können Probleme verursachen. Wenn Menschen glauben, dass sie zu einer Gruppe mit „natürlicher Überlegenheit“ gehören, strengen sie sich eventuell weniger an.

Erklärt also die Bedrohung durch Stereotype alle Leistungsunterschiede?

Nein. Es gibt viele Gründe, warum manche Bevölkerungsgruppen besser abschneiden als andere.

Kinder, die von traditionellen chinesischen Eltern erzogen werden, haben zum Beispiel mehrere kulturelle Vorteile, die ihre Chancen auf akademische Erfolge erhöhen.

Gijsbert Stoet und David C. Geary haben in einer Analyse von Studien, die die Auswirkungen von Stereotypen auf die Mathematikleistungen von Frauen untersucht haben, festgestellt, dass viele Studien Mängel in der Methodik aufweisen. Als die Forscher/innen die Analyse auf Studien beschränkten, die ihren eigenen methodischen Standards entsprachen, wurde nur in einer von drei Studien ein Effekt festgestellt.

Die widersprüchlichen Ergebnisse könnten eines Tages aufgelöst werden. Zum Beispiel schützt das Gefühl, selbst leistungsfähig zu sein, Menschen vor den Auswirkungen von Stereotypenbedrohung. Es ist also möglich, dass einige Fehlversuche auf Unterschiede in der Wahrnehmung von Fähigkeiten bei den Teilnehmer/innen zurückzuführen sind.

Unabhängig davon gibt es jedoch gute Gründe, vorsichtig zu sein. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass die Bedrohung durch Stereotype für alle sozialen Unterschiede bei den Leistungen verantwortlich ist.

Wie können wir also Kinder vor den Auswirkungen der Bedrohung durch Stereotype schützen?

Natürlich können wir keinen Zauberstab schwingen und schädliche Klischees aus dem öffentlichen Bewusstsein entfernen. Doch es gibt einige konkrete Schritte, die wir ergreifen können, um zu helfen.

6 Tipps, um die Leistungen nicht von Stereotypen beeinflussen zu lassen

1. Zeige Kindern Vorbilder, die Stereotypen entkräften.

Experimente legen nahe, dass wir der Bedrohung durch Stereotype entgegenwirken können, indem wir Schüler/innen gute Vorbilder präsentieren – außergewöhnliche Leistungsträger/innen, die sich über gesellschaftliche Stereotype hinwegsetzen.

In einigen Fällen hat die Beschäftigung mit solchen Leistungsträger/innen dazu geführt, dass Schüler/innen bei Tests besser abschnitten.

In anderen Fällen konnten die Forscher/innen keine Leistungssteigerung feststellen – zumindest dann nicht, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Experiments Grund hatten, sich persönlich von einem Stereotyp bedroht zu fühlen.

Dennoch hatte die Präsentation von Vorbildern einen positiven Effekt: Die Schüler/innen berichteten anschließend, dass sie ein stärkeres Interesse daran hatten, einen vergleichbaren Beruf wie die Vorbilder zu ergreifen.

2. Ermutige Kinder dazu, eine auf Anstrengung basierende Sichtweise kognitiver Fähigkeiten anzunehmen.

Wenn wir davon ausgehen, dass Intelligenz eine festgelegte, unwandelbare Eigenschaft ist, sind wir möglicherweise besonders anfällig für die Folgen von Stereotypen.

Umgekehrt scheint die Annahme einer Sichtweise der verbesserbaren Intelligenz die Schüler/innen gegen die negativen Auswirkungen der Bedrohung durch Stereotype zu schützen.

3. Fördere das Arbeitsgedächtnis deines Kindes.

Angesichts der Beweise, dass Stereotypen das Arbeitsgedächtnis beeinträchtigen können, ist es sinnvoll, den Kindern zu helfen, ihre Fähigkeiten im Arbeitsgedächtnis zu steigern.

4. Biete den Schüler/innen vor Prüfungen die Möglichkeit, über ihre Wertvorstellungen nachzudenken…

Wenn Menschen über ihre Werte nachdenken, scheint das eine beruhigende Wirkung zu haben. Sie fühlen sich möglicherweise durch einen Misserfolg weniger bedroht, wodurch die Prüfungsangst sinkt.

Als die Forscher/innen diese Taktik an Studierenden testeten, stellten sie fest, dass die Studierenden weniger anfällig für die Bedrohung durch Stereotypen waren. Allein das Schreiben über einen geschätzten Wert – und die Beschreibung einer Situation, die verdeutlicht, wie wichtig dieser Wert für sie ist – verringerte die Auswirkungen der Bedrohung durch Stereotypen.

5. Erinnere die Schüler/innen nicht an ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Und das nicht nur vor einem Test!

Hast du schon einmal an einem Test teilgenommen, bei dem du zu Beginn Fragen zu deinem persönlichen Hintergrund beantworten musstest? Deine Herkunft? Geschlecht? Alter?

Das mag für die Ersteller des Tests hilfreich sein, um demografische Daten zu sammeln, doch für die Schüler/innnen ist es schlecht.

Als der Educational Testing Service aufhörte, die Schüler zu Beginn des AP Calculus Tests nach ihrem Geschlecht zu fragen, verbesserten sich die Ergebnisse weiblicher Schülerinnen.

6. Erwäge, Kinder über die psychologischen Aspekte der Stereotypenbedrohung zu unterrichten.

Das Wissen über die Auswirkungen der Stereotypenbedrohung kann Schülern helfen, sie zu bekämpfen. Diese Schlussfolgerung legt jedenfalls ein Experiment mit jungen Erwachsenen nahe.

Schüler/innen schnitten bei Tests besser ab, wenn ihnen zuvor erklärt wurde, dass ihre Prüfungsangst auf negative Stereotype zurückzuführen sei und nicht auf ihre „tatsächliche Fähigkeit, bei der Prüfung gut abzuschneiden“.

Bildquelle: https://unsplash.com/photos/w1FwDvIreZU

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